Rheinpfalz #Neuland

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Digital Natives werden junge Leute gerne genannt. Eine Generation, aufgewachsen mit Computern, im Internet zu Hause. Aber kennen wir uns bei all dem Tippen und Wischen und Klicken wirklich in der digitalen Welt aus?

Ich stehe kurz davor, meinen Laptop aus dem Fenster zu schmeißen. Zugegeben, das sage ich fast jedes Mal, wenn er Mätzchen macht oder komplett den Dienst verweigert. Aber dieses Mal möchte ich wirklich kotzen. Seit vier Wochen meldet mir das Drecksding ständig einen „schwerwiegenden Fehler mit dem Startmenü“. Also gegoogelt. Im Internet gibt’s ja keine Frage, die nicht schon einmal gestellt und beantwortet wurde, kein Problem, für das es keine Lösung gibt. Und siehe da: Ich bin nicht alleine. Ich habe sogar eine Auswahl an Lösungsvorschlägen. Ein paar probiere ich aus. Sie funktionieren nicht. Also weiter in der Liste. Ein Nutzer empfiehlt: „Über den Taskmanager Windows Explorer Task beenden und anschließend den Befehl im neuen Task-Shutdown -r -t 00 das System neu starten.“ Was? An anderer Stelle lese ich, man soll das Problem mit DISM-Befehlen reparieren – hä? Im nächsten sehe ich einen Kauderwelsch an Befehlen, in denen ständig Zeichen wie %, }, *, $ und = vorkommen. Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Aber lange nachlesen? Ich habe ja sonst nix zu tun. „Aber Sie sind doch ein Digital Native!“, sagte kürzlich mein Chef zu mir. Digital Natives, das ist so ein Begriff, der meiner Generation, den Leuten zwischen 20 und Mitte 30, gerne übergestülpt wird. So wie Generation Internet, Generation Praktikum, Generation Y. Immer, wenn jemand von den Digital Natives spricht, kriege ich Bauchschmerzen. Klar, die meisten von uns nutzen das Internet, privat wie beruflich, und viele Dinge macht das Netz einfacher oder zumindest schneller. Wir sind regelmäßig online, schicken einander WhatsApp-Nachrichten, haben Accounts auf Facebook und Instagram, folgen vielleicht XYZ auf Twitter, skypen, shoppen auf Amazon und Co, streamen Serien und Musik, sammeln im Netz Geld für ein Start-up-Unternehmen, lernen im Internet sogar unsere künftigen Lebenspartner kennen. Wir tippen und klicken und wischen. Sind deshalb alle ab den 1980er- Jahren Geborenen, als die Personal Computer ihren Siegeszug antraten, Digital Natives? Wohl kaum. Schon der Begriff ist irreführend, wie zum Beispiel US-Forscher John Palfrey, der lange am Berkman Center for Internet and Society an der Universität Harvard lehrte, schon vor Jahren anmerkte. Digital Native, das bedeutet übersetzt „digitaler Eingeborener, Ureinwohner“. Es impliziert: Im Gegensatz zu jenen, die schon erwachsen waren, als Computer auf den Plan traten, kennen die Digital Natives nur eine digitale Welt, sind von klein auf, quasi von Geburt an, damit in Kontakt gekommen. Und weil wir nichts anderes kennen, bewegen wir uns wie selbstverständlich, intuitiv, in ihr. Das stimmt – aber auch wieder nicht. Nicht alle aus meiner Generation sind Digital Natives und nicht alle Digital Natives gehören meiner Generation an. Denn wann ein Mensch mit PCs und Co. Bekanntschaft gemacht hat und in welchem Grad, ist individuell verschieden, abhängig von vielen Faktoren wie Umfeld, Elternhaus, dem Geldbeutel und nicht zuletzt dem eigenen Interesse. Der erste PC meines Lebens lief mit Windows 98, Internet gab’s, als ich 16 war. Die Kindheit? Analog geprägt, von Röhrenfernseher, Videorekorder und Musikkassetten. Das Telefon hatte noch eine Wählscheibe und in der Grundschule konnte sich keiner vorstellen, dass Tafel und Kreide mal durch Smartboards ersetzt werden. Ureinwohner? Nein, eingewandert, zugezogen. Oder auch: nur zu Besuch. Wenn wir schon von Digital Natives reden müssen, wären das nicht eher diejenigen, die um 1980 schon erwachsen waren, die Dämmerung des Computerzeitalters also bewusst miterlebt und sich mit der Materie früh auseinandergesetzt haben? Oder die Kinder, die gerade aufwachsen, die mit zwei Jahren schon ein iPad bedienen können und mit sieben ein Smartphone besitzen? Der Begriff „Digital Natives“ generalisiert. Dabei sind die jungen Leute von heute genauso wenig alle internetaffin, wie in den 60er-Jahren alle Hippies waren. Unser Nutzerverhalten ist so unterschiedlich wie wir. Nur weil wir eine Masse an Möglichkeiten haben, das Netz zu nutzen, müssen wir nicht alle verwenden, sind wir nicht gleich vernetzt, kommunizieren wir nicht gleich. Ein Gamer, der online zockt, kann soziale Netzwerke wie Facebook blöd finden. Andere sind von SMS auf WhatsApp nicht aus Begeisterung umgestiegen, sondern weil sie kaum noch etwas aus ihrem Freundeskreis mitbekommen haben. Und wieder andere sind auf der Arbeit viel im Internet, kennen die Computerprogramme, die sie für ihren Job brauchen, aus dem Effeff. Aber zu Hause bleibt der PC oft aus, weil man ja schon den halben Tag vor dem Bildschirm saß. Das dritte Problem mit der Mär von den Digital Natives sind die Erwartungen an unsere Fähigkeiten, die der Begriff oft zu wecken scheint. Die Erwartung, dass, nur weil wir die digitale Technik nutzen, wir sie auch verstehen – und beherrschen. Als könnte jeder, der einen Führerschein besitzt, ein Auto reparieren. Oder wüsste, wie es funktioniert, oder auch nur, wie man einen Reifen wechselt. Sicher gehen wir mit Computer, Tablet und Smartphone, mit dem Internet anders um als viele in der Generation unserer Eltern oder Großeltern. Vielleicht, weil unsere Hemmschwelle niedriger ist. Wir probieren gerne herum. Wenn’s irgendwo klemmt, klicken wir uns durch. Vielleicht kriegen wir’s ja wieder hin. Oft klappt’s sogar. Auch wenn man hinterher nicht immer nachvollziehen kann, wie man’s eigentlich wieder hingekriegt hat. Und wenn gar nix mehr geht, drücken wir auf den Ausknopf, starten neu und hoffen, dass das Problem von alleine verschwunden ist. Und unsere Eltern wundern sich dann, wenn auch wir mal mit unserem Latein am Ende sind. Mal abgesehen von wenigen, die wirklich Ahnung haben, wissen wir eben so viel, wie wir brauchen, damit’s klappt. Wir wurschteln uns durch, mit Halbwissen, mit Glück. Wissen oft gar nicht, was unsere Maschinchen alles können, und stolpern zufällig über Funktionen und Features, die wir hinterher nicht mehr missen mögen. Sich ausführlich mit allen Aspekten zu befassen, dafür fehlt Zeit oder Muße oder beides. Und kaum ist man auf dem aktuellen Stand, ist der längst veraltet, das nächste Update kommt bestimmt. Was passiert, wenn ich bei einer E-Mail auf Senden klicke? Keine Ahnung. Aber sollte ich es nicht eigentlich wissen, mich mehr mit der Materie beschäftigen – vor allem, wenn ich verantwortungsvoll damit umgehen will? Sprichwort Datenschutz und Privatsphäre zum Beispiel. Denn eigentlich wissen wir ja, dass eine unverschlüsselte E-Mail oder Nachricht quasi jeder mitlesen kann, der will und weiß wie. Trotzdem nutzen wir WhatsApp. Weil’s praktisch ist und kostenlos. Wer liest schon die AGBs von Skype oder dem Adobe Reader? Trotzdem stimmen wir zu. Beherrschen wir die Technik, das Internet, die Kommunikationswege wirklich so gut, dass sie Arbeit und Leben effizienter macht? Mehr Zeit für andere Dinge schafft? Wir unsere Ziele schneller erreichen? Oder ist die digitale Welt oft immer noch mehr Spielzeug denn Werkzeug für uns? Als ich gestern Abend meinen Laptop angeschaltet habe, war das Problem plötzlich weg. Einfach so. „Ha!“, dachte ich triumphierend. „Ausharren funktioniert also doch!“ Zu früh gefreut. Heute morgen war es wieder kaputt, das Startmenü. Ich brauche dringend einen Eingeborenen.

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