Rheinpfalz Mit dem Henkelmann in die Schuhfabrik

91-88279122.jpg

Hauenstein. In den Vorkriegsjahren, aber vor allem in den „goldenen Sechzigern“ boomte es in den 35 Hauensteiner Schuhfabriken. Seit Jahrzehnten bereits rekrutierte die einheimische Schuhindustrie einen Großteil ihrer Mitarbeiter aus einem Umkreis von 50 Kilometern.

Dieser Tage erhielt das Deutsche Schuhmuseum eine Aufstellung der Einpendler vom Januar 1959. Die schlichte Nennung von 53 Städten und Gemeinden, aus denen Mitarbeiter täglich nach Hauenstein zur Arbeit kamen – Hunderte damals noch zu Fuß mit bis zu zwei Stunden Anmarsch – zeigt jedoch mehr als nur Statistik: Tausende Menschen und Familien aus der Südwestpfalz und der Südpfalz, speziell aus dem Dahner- und Gossersweiler Tal, verdienten in „Hääschde“ ihr Brot. Die fleißigen Fabrikarbeiter hatten meistens zu Hause eine kleine Landwirtschaft, so dass nach einem harten Arbeitstag bis spät in den Abend zu Hause noch in Feld und Stall geschafft werden musste. Überraschend ist, dass die Stadt Annweiler (ohne ihre heutigen Stadtteile) mit 187 Mitarbeitern an der Spitze der Pendlertabelle steht. Noch vor den klassischen Einpendlern aus der heutigen Südwestpfalz stellten die Mitarbeiter aus der Trifelsstadt das Hauptkontingent der auswärtigen Mitarbeiter. Die klassischen Pendlerorte waren damals Erfweiler (123), Lug (131), Wernersberg (119) Wilgartswiesen (114), Gossersweiler (111) und Spirkelbach (102). Aber auch aus etwas weiter entfernten Gemeinden in der Südpfalz kamen 1959 Arbeiter in die Schuhmetropole: Aus Waldhambach 36, aus Waldrohrbach 34, aus Ramberg und Münchweiler am Klingbach je 30, aus Landau und aus Dernbach je 29, weitere aus Völkersweiler, Schwanheim, Gossersweiler, Stein und Silz. In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts ging es oft für einem zweistündigen Fußmarsch schon um 5 Uhr von zu Hause weg, weil um 7 Uhr die Arbeit begann. Der Hauensteiner Heimat- und Volkskundler Eugen Klein berichtet, dass sich die Fuß-Pendler in stockdunkler Nacht zusammenschlossen, um gegenseitig Schutz zu finden. „Am Hülsensberg entlang nach Hauenstein ging einer mit der Stalllaterne (Lotzärn) voraus, die anderen folgten dem schwachen Lichtschimmer, damit sie nicht vom Wege abkamen“, schreibt Klein. Aus den Anfangsjahren der Schuhindustrie, die in Hauenstein 1886 Einzug hielt, ist die Erzählung überliefert, dass ein junger Mann aus der Umgebung nach der Schulentlassung vier Wochen umsonst arbeitete, um eine Anstellung zu finden. Von Erfweiler wissen wir, dass es gemeinsam „über den Berg“ ging, nachdem ein Erfweilerer gegen 5 Uhr durchs Dorf lief und mit der Trillerpfeife die mehr als hundertköpfige Dorfbevölkerung weckte. „Mein Großvater Georg Vogel, geboren 1889, hat sein halbes Arbeitsleben täglich von Schindhard aus diesen Weg gemacht“, berichtet der Altbürgermeister von Schindhard, Otto Vogel (Jahrgang 1930). Von Schindhard aus mussten sie schon um 4 Uhr in der Früh aufbrechen und von Busenberg noch eine halbe Stunde früher, weiß Vogel zu berichten, der nach dem Krieg selbst „auf Schusters Rappen“ nach Hauenstein kam. Eine Episode, die den legendären Fleiß belegt, berichtet der Hauensteiner Historiker Theo Schwarzmüller über Katharina Künzel aus Annweiler. „Am Morgen des 1. Mai 1908 drückte sie, 14-jährig, zum letzten Mal die Schulbank. Am gleichen Mittag fing sie in einer Schuhfabrik in Hauenstein an, arbeitete dort mit Unterbrechungen bis 1964, als sie mit 70 Jahren in Rente ging.“ Obwohl damals die Bahnlinie Landau-Hauenstein schon mehr als 30 Jahre in Betrieb war, machte sich die „Künzel Kattel“ zu Fuß von Annweiler auf den eineinhalbstündigen Weg, um mit vielen anderen Annweilerern über Spirkelbach pünktlich um 7 Uhr im Betrieb zu sein. Allen Fuß-, Rad- oder später Omnibuspendlern ist eines gemein: Sie hatten auf ihrem Arbeitweg ihren Henkelmann dabei, gefüllt mit Gemüsesuppe, selten auch mit einem Stück Fleisch oder Speck. In der Mittagspause wurde er im Wasserbad warm gemacht, und mit großem Appetit wartete man auf die Mittagssirene. Im r Schuhmuseum sind in der historischen Kantine eiserne Wasserbad-Kessel, wie man sie vor 80 Jahren benutzte, noch zu sehen, in den alten Tischen erkannt man die Umrisse der Henkelmänner. Aus Wilgartswiesen, Spirkelbach oder Lug, den unmittelbaren Nachbargemeinden der in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhundert aus allen Nähten platzenden Schuhgemeinde Hauenstein, brachten die Frauen täglich das Mittagessen zu den Männern und Söhnen in die „Fawerik“. Zwischen 11 und 12 Uhr kamen die Frauen, die zu Hause noch die oft vielköpfige Familie zu versorgen hatten, in Gruppen mit in Taschen und Töpfen verstauten warmen Mahlzeiten zu ihren „Fabrikleit“. Den älteren Hauensteinern sind die fleißigen Essensträgerinnen noch bekannt; sie gehörten zum täglichen Bild dieser Jahrzehnte, wenn sie in Dreier- oder Viererreihen die Landauer Straße und den Hinterweg hochkamen, damit die Angehörigen – manchmal waren es mehrere Personen aus einer Familie – rechtzeitig zu ihrer verdienten Mahlzeit kamen. Eugen Klein berichtet von der Schwanheimerin Elisabeth Spengler, geboren 1898, dass sie ebenfalls schon als Schulmädchen mit dem Korb auf dem Kopf über den Hülsenberg nach Hauenstein ging. „Meist brachte sie Suppe, Gemüse und Kartoffeln. Fleisch gab es selten.“ Zurück zur „Künzel Kattel“ aus Annweiler: Zehn Stunden dauerte nach der Jahrhundertwende der Arbeitstag, auch samstags. Ihr Stundenlohn betrug zehn Pfennig. Am ersten Zahltag erhielt die Kattel, wie sie zu ihren Lebzeiten noch zu Protokoll gab, 3,60 Mark. „Alles wurde auf Heller und Pfennig zu Hause abgeliefert“, wo der Tisch bei Künzels noch für 19 weitere Geschwister gedeckt werden musste. In den ersten vier Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ging es meist zu Fuß in die Fabrik – wohl dem, der sich ein Fahrrad leisten konnte. Theresia Hafner (Jahrgang 1906) erzählte, dass sie noch nach dem Zweiten Weltkrieg den weiten Weg von Stein über Wald- und Feldwege nach Hauenstein zur Arbeit ging. Erst später wurde es den Einpendlern leichter gemacht; die Arbeiterbusse der auch heute noch existierenden Firmen Becker, Schilling und Sarter brachten täglich viele Hundert Einpendler ins Schuhdorf. Der heutige Rathausplatz war in den 50er und 60er Jahren ein einziger Omnibusbahnhof. Jetzt endlich hatten die rund 2000 Pendler einen leichteren Arbeitsweg. Für diesen sprichwörtlichen Fleiß der Fuß-Pendler steht beispielhaft „Fritzels Lene“. An jedem Arbeitstag machte sie den Weg nach Hauenstein, oft sogar zweimal mit dem großen Tragkorb voller Schuhschäfte auf dem Kopf, die sie für Erfweilerer Heimarbeiterinnen ablieferte. Die Lene, berichtet Eugen Klein, war manchmal bis zu fünf Stunden auf dem steilen Weg über den Winterberg unterwegs: „Wohl nie ging sie am Winterkirchel vorbei, ohne ein Gebet zu sprechen.“ Wie sie waren die allermeisten der Hauensteiner Einpendler getragen von großem Gottvertrauen und tiefer Religiosität. Anders hätte man über Jahrzehnte hinweg die Strapazen wohl auch nicht ertragen können. Info Der „Historische Blauer Mondaach“ im Rahmen des Festprogramms zu „130 Jahre Hauensteiner Schuhindustrie und 20 Jahre Deutsches Schuhmuseum“ findet am Montag, 5. September, ab 14 Uhr im Deutschen Schuhmuseum statt. Dazu sind alle ehemaligen Schuhfabrikarbeiter, die in einer Schuhfabrik in Pirmasens, Hauenstein oder einer anderen Südwestpfalz-Gemeinde gearbeitet haben, bei freiem Eintritt eingeladen.

91-88279120.jpg
x