Rheinpfalz Kreative Origamifalter treffen sich in Mannheim
Wer bei Origami an Papierflieger denkt, liegt schief. Die Papierfaltkunst ist mathematisch hochkomplex und hat Eingang in Autoindustrie und Raumfahrt gefunden. Beim Bahnhofsfalten in Mannheim treffen sich die Experten.
Was ist das? Sie werden Tag- und Nachtfalter genannt und seit Januar flattern sie einmal im Monat in den Mannheimer Hauptbahnhof. Um über Berge und Täler ans Ziel ihrer Vorstellungskraft zu gelangen, benutzen die Bahnhofsfalter statt Flügeln geschickte Finger. Denn bei dieser Spezies handelt es sich nicht etwa um eine Schmetterlingsart, sondern um Menschen aus ganz Süddeutschland, die dem Papierfalten frönen. Und wenn tatsächlich Insekten im Spiel sind, dann entstehen diese aus einem einzigen Blatt. „Origami“ heißt die Kunst, das ist japanisch und kommt von „Oru“, das falten meint, und „Kami“, das bedeutet Papier. Wer dabei an Kindergarten, Papierflieger und Zeitungshüte denkt, erblasst beim Anblick traditioneller, aber auch superkomplexer Kunstwerke, die unter den magischen Fingern der Bahnhofsfalter entstehen: Wilde Tiere und fantastische Fabelwesen, aber auch bunte Schachteln, hüpfende Frösche, betende Engel, Blumen, Rosenknospen und Masken. „Hallo, ich bin Wolf und habe verschlafen, tut mir leid, dass ich so spät bin.“ Der junge Mann blickt in die geschäftige Runde vor der Eisdiele und nimmt zielgerichtet in der Männerabteilung Platz. Sein Sitznachbar heißt Bodo Haag, kommt aus der Nähe von Reutlingen und ist Gymnasiast in der neunten Klasse. Mit 14 ist er der Jüngste und doch schon ein geschätzter Entwickler und Berater, wenn es um komplexe Modelle wie ein Saurierskelett oder ein geflügeltes Schwein geht: „Ich habe ein Papier in der Hand und die Figur vor Augen, die daraus werden soll, und weiß sofort, wie ich es falten werde“, sagt er und präsentiert kurze Zeit später ein Mammut. Das Diagramm, das bei Bodo im Kopf abläuft, zeichnet er für Wolf Weidner (24) auf ein Blatt Papier – und wie von Zauberhand steht nach wenigen Minuten ein dreibeiniger Elefant auf dem Tisch. Auch professionelle Papierfalter arbeiten nach wenigen Grundformen aus Berg- und Talfalten, die „Frosch“ oder „Vogel“ heißen und modifiziert werden. Wolf berichtet, dass er mit Origami sein Studium finanziert: Der angehende Soziologe filmt sich beim Falten und veröffentlicht die Anleitungen auf dem Videoportal Youtube: „Durch die Werbung, die da mitläuft, kriege ich für jeden Klick Geld.“ Für die komplexen Tiere basteln sich die Jungs stabiles Grundmaterial aus Alufolie, die von beiden Seiten mit hauchdünner Blumenseide beklebt wird. Marc holt einen silberfarbenen Bogen aus der Tasche: Über Kontakte zu einem Tetrapack-Hersteller sei er an diesen Schatz gekommen, berichtet der 25 Jahre alte Doktorand im Fach Physik und verweist auf den derzeit als weltbesten Falter gelobten Amerikaner Robert Lang: Der Physiker gilt als Pionier in der Entwicklung und Anwendung von Origami in wissenschaftlichen Anwendungsbereichen: Die deutsche Autoindustrie stellt nach seinem Faltplan Airbags her. Auch eine Tasche für Medizinzubehör und ein Weltraumteleskop sind in seinem Kopf geboren. Als Marc erklärt: „In der höheren Mathematik verwendet man Origami, um Gleichungen dritten Grades zu lösen“, schaltet sich Brigitte Wehrle aus Ketsch ins Gespräch ein. Die ehemalige Lehrerin für Mathematik erzählt: „Mit Origami haben meine Hauptschüler Mathematik mit den Händen erfahren, zum Beispiel wenn sich in der Raute die Diagonalen schneiden.“ Seit ihrer Pensionierung trainiert die heute 73-Jährige mit Kindern und regelmäßig im Altenheim mit Senioren die Feinmotorik und das Denken. Sie weiß: „Origami ist derzeit bei der Generation 90 plus der Hit.“ Die magische dreidimensionale Ent-Faltung zweier ineinandergeschobener Sterne aus einer viereckigen Schachtel, mit der Annelie Kreis aus Heddesheim stolz ihren „double star flexi cube“ aus dem Buch „Brillant Origami“ des britischen Origami-Gurus Dave Brill vorführt, ist ein weiterer Beweis dafür, dass Papierfaltkunst viel mit Berechnung zu tun hat. „Frauen falten Schachteln, Männer falten Tiere!“ Das einfache Credo, das die Bahnhofsfalter aus drei Generationen unisono bestätigen und das sehr nach Klischee klingt, wird sich dem Beobachter als „Frauen falten eher Traditionelles nach Anleitung, Männer reizt die Entwicklung“ entschlüsseln und zeigt sich in der spontan entstandenen Sitzordnung: Sechs Frauen – vier kommen aus einer Fal-tergruppe aus Ladenburg und tragen eleganten – selbstverständlich selbst gefalteten – Schmuck, gruppieren sich am hinteren Ende der Tischreihe, und die erfahrenen erklären einer Anfängerin, wie man eine Dose faltet, die aus acht Modulen zusammengesteckt wird. Stephanie Scholze aus Landau hat als Architektin keine Probleme mit räumlicher Vorstellung und braucht dennoch etwa zwei Stunden, bis die Sternenschachtel steht. Genau in der Mitte, zwischen regenbogenfarbenen Behältnissen und filigranen Papierdeckchen – Tesselations genannt – und den Tieren der Jungs sitzen Liz und Volker, die sich „Grenzgänger“ nennen. Der 77-Jährige versucht sich gerade an einer komplizierten Rose, die 19 Jahre alte Liz nutzt die Methode des „wet folding“, um den Stier nach Stephan Weber aus München besonders plastisch darzustellen. Sie zeigt den Freunden die von ihr entwickelte Methode, Ohren und Hörner gleichzeitig aus der Kopfmitte zu formen. Volker Sayn aus Germersheim ist der Gründer der Bahnhofsfalter: „Ich mag diesen Bahnhof schon immer und esse gerne hier Eis“, sagt der pensionierte Staatsbeamte. Zwischen internationalen Papierfalter-Treffen und Workshops tauschen sich die Origamifreunde in einem Internetforum aus. Im Bemühen, eine Rose von Naomiki Sato nachzufalten, hat Sayn sich im Januar mit Wolfgang Pflaeserer aus Fuerth im Odenwald im Mannheimer Bahnhof getroffen. „Gerade wenn es um komplizierte Faltungen oder die Entwicklung von komplexen Formen geht, sind Erklärungen und Versuche anschaulicher, wenn man das Objekt in den Händen hält“, weiß der studierte Architekt. Zum Falten sei er in den 1980er-Jahren gekommen: „Auf einer Hütte in den Alpen habe ich ein Mobile aus geometrischen Figuren gesehen, das mich gefesselt hat.“ Bei der Vereinigung Origami Deutschland infizierte er sich mit dem Virus der Faltkunst. Über die Ladenburger Gruppe kam er auf die Idee, nach seiner Pensionierung regelmäßige Treffen in Germersheim zu organisieren. Beim alljährlichen Sommerfest im Landauer Dagoberthof sitzt Volker Sayn an einem kleinen Tisch und bringt mit Engelsgeduld Groß und Klein das Falten von Kussmündern, betenden Nonnen oder hüpfenden Fröschen bei. Weit über hundert Modelle, auch hochkomplexe, die nur wenige beherrschen, wie die Meister-Yoda-Figur aus den Star-Wars-Filmen (Foto rechts), faltet er aus dem Kopf. Liz hat den Anlass für das Bahnhofsfalten am Sonntag gegeben. Als die 19-jährige Abiturientin im Forum schrieb, dass sie auf der Durchreise von Ingolstadt an den künftigen Studienplatz in Bozen ihre Großeltern in Mannheim besucht, hat Volker Sayn per elektronischer Post zum Bahnhofsfalten aufgerufen. Vier Stunden wird gefaltet und getüftelt, Passanten bleiben neugierig stehen, ein Obdachloser erbettelt sich das Geld für eine Pizza, der Sicherheitsdienst der Bahn und zwei Streifenpolizisten beobachten flanierend das Geschehen der seltsamen Versammlung. Dann geht alles ganz schnell: „Ich muss zum Zug“, sagt Bodo, und auf dieses Stichwort – hast du nicht gesehen – sind die Tische Nullkommanichts leergefegt, Tiere, Schachteln und Schmuck in stabilen Plastikkisten verstaut. In wenigen Minuten hat sich der Falterschwarm aufgelöst und vor dem Eiscafé Vittoria stehen die Tische nach dem Abflug der Bahnhofsfalter blank und grau wieder für die Eisesser bereit. INFO Die „Tag- und Nachtfalter" in Germersheim treffen sich immer am ersten Dienstag eines Monats ab 19.30 Uhr im protestantischen Dekanat. Die „Bahnhofsfalter" treffen sich in der Regel am ersten Mittwoch eines Monats im Hauptbahnhof Mannheim (in der Halle auf der Stadteben vor dem Eiscafé Vittoria).