Rheinpfalz Jazz, Jazz, Jazz
Deutschlands ersten Jazzschuppen gründet ein Nazi: 1934 eröffnet Dietrich Schulz-Köhn den „Swing Club“ im preußischen Königsberg.
Im Geburtsort des lebenslangen Junggesellen Immanuel Kant dröhnen ab 1934 wilde Klänge aus dem ersten Jazzschuppen Deutschlands in die Nacht. Nicht Berlin, die swingende Metropole, hat der gerade 22-jährige Dietrich Schulz-Köhn als Standort für seinen Jazztempel auserkoren – den „Swing Club“ machte er der Einfachheit halber an seinem Studienort Königsberg auf. Und das zu einer Zeit, als auf den Grammophonen in den Wohnstuben die Schlager „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“ oder „Liebe ist ein Geheimnis“ leiern. 1912 im thüringischen Sonneberg geboren, bekommt Dietrich Schulz-Köhn bereits als Kind Klavier- und Geigenunterricht. Am Gymnasium in Magdeburg lernt der Junge mit dem Doppelnamen noch Posaune und Schlagzeug dazu. Und nach dem Abitur leistet er sich ein tragbares Grammophon und beginnt, Schallplatten zu sammeln. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte baut er eine Kollektion auf, die er während des Krieges kreuz und quer durch Europa mitschleppt. Sein Studium ist ausgedehnt: Musik, Sprachen und Volkswirtschaft lernt der Junge. In Freiburg, Frankfurt, Exeter und eben Königsberg. Seine Leidenschaft für den Jazz entdeckt der Enthusiast wohl im englischen Exeter: Der junge Deutsche trifft auf Duke Ellington und den gerade mal 32-jährigen Louis Armstrong. Die beiden schwarzen Musiker hinterlassen beim musikbegeisterten Studenten aus dem Reich einen bleibenden Eindruck. Zurück in Deutschland besucht er Vorlesungen am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt, wo es die ersten Vorlesungen überhaupt zum Thema Jazz gibt. Zwei Jahre später macht Schulz-Köhn Nägel mit Köpfen, gründet seinen „Swing Club“ und arbeitet neben dem Studium bei der Deutschen Grammophon, damals einem der größten Musikverlage in Deutschland. Für die Grammophon stellt er Jazz-Alben zusammen. Jeweils auf zwei oder drei Schallplatten werden dabei die Größen der Zeit versammelt: Chick Webb, Teddy Wilson, Dorsey Brothers, Louis Proma und natürlich Duke Ellington. Schon 1933, kurz nach dem Abitur, ist Dietrich Schulz-Köhn noch in Magdeburg der SA beigetreten, Hitlers Schlägertruppe. Das tut er später als eine Entscheidung „in Katerstimmung“ ab. Eine spontane Schnapsidee kann es aber nicht gewesen sein, denn 1938 wird der Jazz-Freund außerdem Mitglied der Führerpartei NSDAP. Nach dem Krieg rechtfertigt er das als „karrierebedingt“. Karriere jedenfalls macht er im Dritten Reich: Er wird Luftwaffenoffizier und komponiert das Lied „Fallschirmjäger im Einsatz: Wer kennt die Soldaten im grauen Kleid“. Als Oberstleutnant macht er in Feldgrau dagegen keine schneidige Figur. Auf Fotos – auch mit dem französischen Gitarristen und Komponisten Django Reinhardt – sieht man ihn als schmächtigen Brillenträger mit einer riesigen Offiziersmütze, die so gar nicht zu seinem Kopf passen will. 1942 wird Schulz-Köhn Mitherausgeber der „Mitteilungen“, dem ersten deutschen Jazz-Magazin, wenn man so will. Aus Paris, Amsterdam, Stockholm schickt er seine Eindrücke und Beiträge an Fans im gesamten Reich. Ganz offiziell. „Ich war sozusagen ihr Zulieferant, weil ich ziemlich viel herumkam und auch weil ich die Sprachkenntnisse hatte, also in Frankreich, Belgien, und auch Verbindungen nach Schweden hatte“, erzählt Schulz-Köhn einmal. Über das Spannungsfeld von nationalsozialistischer Ideologie und der von ihr als „entartet“ definierten Musik, meint er später: „Das war natürlich alles illegal. Um das ein bisschen zu tarnen, bin ich auch im Heft Nummer eins auf dem Titelblatt in voller Uniform und Offiziersmütze. Wer aber näher hingesehen hätte, der hätte sofort bemerkt, dass das nur mit Jazz zu tun hat und mit Amerikanismus, möchte ich sagen.“ 1936 sollen ihn sogar SA-Kollegen wegen seiner Jazz-Vorträge attackiert haben, wie ein Biograf berichtet. Doch ganz so schlimm wird es nicht gewesen sein. Denn aus Sicht der NS-Propaganda erfüllen auch Schulz-Köhns „Mitteilungen“ ihren Zweck: Nazi-Deutschland betreibt selbst einen Jazz-Sender auf Kurzwelle – ein Programm für feindliche Soldaten, unterbrochen von Parolen, von denen man sich verspricht, die Moral der Kriegsgegner zu brechen. Von wegen Amerikanismus. Sogar eine Jazzcombo leistet sich das Deutsche Reich: Charlie and His Orchestra, benannt nach ihrem Gründer Karl Schwedler. Die Band tritt ab 1939 auf und verbreitet swingende Hits. Zu bekannten Jazz-Standards wie „Makin’ Whoopies“ beispielsweise gibt es deutsche Texte, die von Krieg und Sieg handeln. 1943 ziehen Charlie und der Kurzwellensender von Berlin nach Stuttgart um – bei Bombenangriffen wird das Studio in Schutt und Asche gelegt. Dietrich Schulz-Köhn stilisiert sich nach dem Krieg zu einer Art Freiheitskämpfer für den Jazz. Im ersten Heft seiner Mitteilungen klingt das freilich anders: „Was den Stoff, den Inhalt der ,Mitteilungen’ anbetrifft, so wird die Frage aufgeworfen, ob es angängig ist, darin von ,Swing-Musik’ und ,Hot-Musik’ zu sprechen“, schreibt er da. Und erklärt sofort, dass der linientreue Deutsche mit dieser Musik und den Anglizismen umzugehen verstehe. Soldaten könnten ja auch „im Konzertsaal Werke von Ravel, Debussy, Rimsky-Korsakoff, Tschaikowsky hören“. Dass diese Art Kultur nur Offizieren offensteht, nicht aber dem Kanonenfutter, das an der Front verheizt wird, erwähnt Schulz-Köhn nicht. „Wenn in öffentlichen Bädern dagegen unreife Jünglinge wüste Platten von Nat Gonella und ähnlichen musikalischen Nullen spielen und damit öffentliches Ärgernis erregen, was zur Folge hat, daß Platten und Apparat kassiert werden, so ist das nur zu begrüßen“, schränkt der Jazzfreund sofort ein. Und rückt die Hörer von seiner Meinung nach schlechter Musik in die Nähe von Homosexuellen. Für die Nazis ein rotes Tuch. Hans-Otto Jungs, ein weiterer Herausgeber der Mitteilungen, sagt in der Rückschau über Schulz-Köhn: „Er war der einzige in unserem kleinen Kreis von Jazzfans, der nicht wahrhaben wollte, was in Deutschland passierte. Er verhielt sich wie ein Anti-Nazi, aber wenn du mit ihm sprachst ... nun: Es war schizophren.“ Schulz-Köhn trifft als Luftwaffenoffizier in Paris auf seinen französischen Bekannten Charles Delaunay, den Gründer des „Hot Club de France“, einer Vereinigung von Jazzliebhabern, der Schulz-Köhn bereits 1935 beigetreten ist. Dass Delaunay inzwischen bei der Résistance ist und der Hot Club eine der Deckorganisationen der Widerstandsbewegung ist, muss Schulz-Köhn bekannt gewesen sein – aber, und das passt zur Einschätzung Hans-Otto Jungs: Der junge Offizier sieht großzügig darüber hinweg und profitiert dafür von Delaunays guten Beziehungen zu den Jazz-Größen in Europa. Für die Mitteilungen liefert Schulz-Köhn Künstlerporträts und Besprechungen von Neuerscheinungen. Daneben betätigt er sich als früher Disc Jockey: In Pariser Clubs legt er vor deutsch-französischem Publikum seine Platten auf. Das Kriegsende erlebt Schulz-Köhn in französischer Gefangenschaft. Im Internierungslager gründet er einen Jazzclub, hält Vorträge vor mitinhaftierten Offizieren und wird mit Carepaketen von seinem Freund Delaunay versorgt. 1947 kommt Schulz-Köhn frei, wird – wie viele andere – problemlos entnazifiziert und knüpft an seinen Studentenjob aus der Vorkriegszeit an. Der Musikverlag Decca engagiert ihn, er erhält von der britischen Militärregierung die Erlaubnis, einen Jazzclub in Hannover mit anderen Musik-Enthusiasten zu eröffnen, den „Hot Club“. In Düsseldorf, seinem neuen Lebensmittelpunkt, folgt ein weiterer Hot Club. Als Decca-Manager produziert Schulz-Köhn den Frankfurter Jazz-Posaunisten Albert Mangelsdorff. Er heiratet Inge Klaus, eine Jazz-Sängerin. Und der Rundfunk will ihn haben. Die junge Republik braucht neue Töne, die weltoffen, frisch, unvoreingenommen daherkommen – alles Merkmale des Jazz. Und kein Zweiter kennt sich besser aus als Schulz-Köhn. Weil er aber weiter in der Musikindustrie arbeitet, darf er nur mit einem Künstlernamen ans Mikrofon – der „Doktor Jazz“ ist geboren. Seinen Doktor gemacht hat er tatsächlich, 1939 mit einer Arbeit über „Die Schallplatte auf dem Weltmarkt“. Von 1948 bis 1992 ist Schulz-Köhn im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks (später WDR) und des Deutschlandradios. Die Sendungen heißen „Jazz-Almanach“, „Jazz-Information“ oder „Rauhe Rille“. Schwerpunkt: Seine immense Plattensammlung, zu der 4000 Schellack-Scheiben gehören, die Schulz-Köhn seine „liebsten Freunde“ nennt. Nebenbei macht er Oscar Peterson, Stan Getz, Ella Fitzgerald oder das Orchester Kurt Edelhagen bekannt. Seine Fangemeinde wächst und bleibt ihrem Doktor Jazz über Jahrzehnte treu. Auch seine Formulierkunst stellt Schulz-Köhn gern in Beiträgen und Büchern unter Beweis, zuerst 1949, als er darüber verärgert ist, nicht zur Mitarbeit an einem neuen Jazz-Magazin eingeladen zu sein: Die heutigen Experten würden immer weniger wissen, ätzt Schulz-Köhn. Und überhaupt sei die neue junge Generation nicht gerade dazu angetan, ernste Anhänger zu gewinnen oder Gegner zu überzeugen. Je jünger der Jahrgang, desto maßloser sei dessen Geltungsbedürfnis. „Wenn ich mich aus dem aktiven Jazzleben zurückziehe, so gebe ich nicht den Jazz auf, wohl aber seine Anhänger“, droht er. Aber sein eigenes Geltungsbedürfnis lässt es nicht zu, dass er sich tatsächlich zurückzieht und seine Radiosendungen sein lässt. Darüber hinaus organisiert er Ausstellungen, hält Vorlesungen in Köln und Berlin, tritt als Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung in Graz auf und veröffentlicht Bände, darunter 1963 die „Kleine Geschichte des Jazz“. Erst mit 80 beendet Schulz-Köhn seine Radiokarriere und gibt das Mikrofon an seine Nachfolger weiter. Ein Mitarbeiter erinnert sich, Doktor Jazz habe zuletzt distanziert und zurückgezogen gewirkt – wohl auch, weil inzwischen nicht nur beim WDR eine ganze Reihe von Experten mitreden können. Nicht wenige davon saßen in seinen Vorlesungen. 1994 veröffentlicht Schulz-Köhn das Buch „I got Rhythm“, 1997 seinen letzten Band „Die Evergreen-Story – 40x Jazz“. Als er 1999 stirbt, wird auch seine Sendung eingestellt, die Plattensammlung geht an die Gesellschaft für Jazzforschung der Universität Graz. Und doch lebt sein Mythos fort: Im kürzlich angelaufenen Film „Django“ wird Schulz-Köhn nachgesagt, er habe während der Nazizeit eine Tournee für Django Reinhardt durch das Reich organisiert. Reiner Unsinn. Oder, um es mit Schulz-Köhns eigenen Worten zu sagen: „Der Jazz ist Gegenstand der Spekulation und einer Konjunktur größten Ausmaßes.“