Kultur Südpfalz Flaggschiff des Unbehagens
Nicht unumstritten mögen die literarischen Qualitäten der Romane Juli Zehs sein, unbestritten ist aber wohl, dass es niemanden im deutschsprachigen Literaturbetrieb gibt, der sich so massiv in politische Debatten einmischt wie Zeh. Ihr aktuelles Buch zeugt davon.
Zeh gilt einerseits als politisch engagierte Intellektuelle, wird jedoch andererseits gern mit Attributen bedacht, die der promovierten Juristin nicht eben schmeicheln: zum Beispiel als oberlehrerhafte Besserwisserin. Ob derlei Zuschreibungen zu Recht bestehen, lässt sich jetzt anhand eines Buches überprüfen, das Zehs Wortmeldungen von 2005 bis 2014 sammelt, aus einem Jahrzehnt „der politischen Einmischung, der kritischen Analyse gesellschaftlicher Phänomene und des Eintretens für eine humanistische, freiheitlich geprägte Geisteshaltung“, wie Zeh in einer Vorbemerkung sagt. Es handelt sich um Reden und Aufsätze, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, wobei schon der Blick in die Liste der Organe interessant ist: „FAZ“, „Welt“, „Cicero“, sogar ein wunderliches Medium wie „Live Jewellery Watches Fashion“ findet sich da. „Linke“ Medien hingegen fehlen. Dabei müsste Zeh doch gerade dort den Ton angeben, denn ihre Position ist am ehesten am linksliberalen Rand des meinungsbildenden Spektrums zu verorten. Zumindest unterstützte sie im Bundestagswahlkampf 2005 eine Initiative des „alten Haudegen Grass“ (Zeh) zugunsten von rot-grün. Ihr zentrales Thema hat Zeh früh gefunden: die Freiheit des Einzelnen, die in Zeiten des digitalen Wandels bedroht ist, und damit einhergehend die Gefährdung der Demokratie. 2008 reichte Zeh gegen die Einführung des biometrischen Reisepasses Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Im ersten Text des Buches, dem Vorwort zu der 2005 bei der Büchergilde Gutenberg erschienenen „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, prangert die 1974 in Bonn geborene Autorin, die seit ihrem Romandebüt „Adler und Engel“ (2001) zu den „Wahrgenommenen“ der Literaturszene gehört, „Rasterfahndungen, staatliche Zugriffe auf private Konten, erweiterte Abhörbefugnisse“ und andere „Paradebeispiele für menschenrechtsverachtendes staatliches Handeln“ an. Es folgen Einlassungen zu allen möglichen Themen: Angela Merkels Rolle als „Ikone der Ermüdeten, als Flaggschiff der politischen Resignation“, China als „gigagroße Semi-Diktatur“, einem als „Käpt’n Ego“ titulierten Individualismus (der in Zeh-typischem Duktus „besser nicht zu einer rechtschreibreformierten Schreibweise von Infantilismus werden“ sollte) und nicht zuletzt der öffentlichen Rolle von Autoren. Für Zeh „ist Schreiben immer und gerade jetzt ein politischer Akt: Er beginnt mit der Frage, ob man den ,Kampf der Kulturen’ in Anführungszeichen setzt oder nicht.“ Roter Faden bleibt das Engagement gegen die Folgen der digitalen Überwachung durch Konzerne und Geheimdienste, gipfelnd in jenem von fast 70.000 Menschen unterzeichneten offenen Brief an Angela Merkel, in dem als Konsequenz aus der NSA-Affäre eine „digitale Agenda“ der Bundesregierung gefordert wird und auf den die Kanzlerin nie reagiert hat. Zeh unterlaufen gelegentlich Platitüden („Aus Sicht des Menschen kann man Zukunft als die Summe aller Möglichkeiten beschreiben, die sich innerhalb einer Lebensspanne theoretisch realisieren könnten“), doch vor allem in jüngeren Texten artikuliert sie eine ungekünstelte, nur notdürftig unterdrückte Wut angesichts grassierender Gleichgültigkeit: „Was muss noch passieren, damit sich Unbehagen in Protest umsetzt?“ Über den mitunter in die eigenen rhetorischen Arabesken verliebten Stil der Texte kann man streiten. Die Notwendigkeit aber, dass sich kritische sprachmächtige Menschen in die Politik einmischen, kann kaum angezweifelt werden. Dass keiner so penetrant wie Juli Zeh der Frage nachgeht, „Wer besitzt die Hoheit über unsere individuellen Biographien?“, kann man ihr nicht vorwerfen.