Gratwanderung zwischen Ost und West Blickpunkt: Belarus – Weißer Fleck auf der Europakarte

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Ein autoritär regierender Dauerpräsident und eine Mischung aus Sowjetkommunismus, Heimattümelei und Aufbruchstimmung: Weißrussland ist spröde. Es entzieht sich den üblichen Kategorien und lässt den Besucher ratlos zurück. Fast genauso ratlos erscheinen aber auch die Belarussen auf der Suche nach ihren nationalen Wurzeln. Eine Reise in das unbekannte Land am Rande Europas.

Mädchen mit Blumenkränzen im Haar, gekleidet in historische Trachten. Endlose Gespräche über den „belarussischen Menschen“, und darüber, was Schule, Jugendgruppe, Kunstverein oder gar die HIV-Präventionsstelle dazu beitragen können, eben diesen belarussischen Menschen zu formen. Patriotismus, geschichtliche Wurzeln, Identität des Volkes: Sie klingt ganz schön fremd in deutschen Ohren, diese Diskussion, die die weißrussische Regierung, respektive Dauerpräsident Aleksander Lukaschenko dem Volk offenbar verordnet hat. Die Wurzeln einer belarussischen Nation zu finden, ist gar nicht so einfach. Zu einem eigenständigen, unabhängigen Staat wurde Weißrussland nämlich erst 1991 – sieht man von der Belarussischen Volksrepublik von 1918 ab, der nur ein extrem kurzes Dasein beschieden war. Das Land wurde im Lauf seiner Geschichte von Polen, Schweden, Russen und Deutschen annektiert, besetzt und oft zerstört. Darunter litt auch die Landessprache, das Belarussische. Von den Eroberern unterdrückt ist es fast verschwunden. Die Mehrheit der Weißrussen spricht heute Russisch oder „Trasjanka“, eine Mischung aus den beiden Sprachen. Letzteres gilt allerdings als Zeichen geringer Bildung. Seit zwei Jahren erlebt das Belarussische jedoch eine Renaissance. In den Städten werden inzwischen Belarussisch-Kurse angeboten, die immer ausgebucht sind. Wie in kaum einem anderen der Nachfolgestaaten der auseinandergebrochenen UdSSR ist in der Republik Belarus das sowjetische Erbe präsent. Lenin steht hier noch überall fest auf seinem Sockel, er gibt Straßen, Plätzen und U-Bahn-Stationen seinen Namen. Alljährlich zum Jahrestag der Oktoberrevolution werden Paraden abgehalten, in Reden wird die enge Bindung an den „großen Bruder“ in Moskau betont. Von diesem braucht die Regierung in Minsk billiges Gas und günstige Kredite, wenn das Land überleben will. Präsident Aleksander Lukaschenko, der ehemalige Kolchosen-Vorsitzende, führte das Land in der chaotischen Übergangsphase von 1994 an in Richtung autoritäres Regime. Dies garantiert zwar ein gewisses Maß an Stabilität und Wohlstand, lässt andererseits aber keinen Raum für echte Opposition, Pressefreiheit und Bürgerrechte. Doch seit im Nachbarland Ukraine ein unerklärter Krieg schon Tausende das Leben gekostet und Millionen aus ihrer Heimat vertrieben hat, ist das Verhältnis zu Russland etwas abgekühlt. In den vergangenen Jahren haben die Regierungen unter Präsident Lukaschenko vorsichtig versucht, sich ein wenig aus der Umklammerung durch Moskau zu befreien und die eingefrorenen Beziehungen zur EU wieder etwas aufzutauen. Dass die Regierung in Minsk vor kurzem die Visumpflicht für EU-Bürger, die weniger als fünf Tage im Land bleiben wollen, aufgehoben hat, ist eines der bisher letzten Anzeichnen für eine schrittweise Öffnung Richtung Europa. Von diesem vorsichtigen Abrücken von Putin und der Angst vor dessen großrussischen Träumen zeugt neben der Renaissance der belarussischen Sprache auch das Besinnen auf Traditionen und Geschichte, die allgegenwärtige Diskussion um einen „guten belarussischen Menschen“. 2016 wurde zum „Jahr der belarussischen Kultur“ deklariert. Das heißt allerdings nicht, dass jetzt Kunst gefördert wird, die es wagt, Politik und Gesellschaft zu kritisieren. So weit geht die Öffnung dann doch nicht. Im Gegenteil. Kunst hat es hier schwer, wenn sie nicht auf Linie ist. Dies belegt unter anderem das Schicksal der belarussischen Schriftstellerin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch, die 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis erhalten hat. Die Autorin wird bewacht und abgehört, öffentliche Auftritte sind ihr untersagt. Wie wenig frei Kunst und Kultur selbst im Kleinen sind, zeigt der Besuch eines Kinderkulturzentrums in Bobruysk, südlich von Minsk. Dort stellen Kinder und Jugendliche ihre Bilder aus. In den Gemälden geht es um den Widerstand der Weißrussen gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, um die aufopferungsvolle Tätigkeit von Rettungsdiensten und Polizei oder auch um die Illustration pädagogisch wertvoller Themen wie die Gefahren des Rauchens und Trinkens. Selbstverständlich, beteuert Igor Wladimirowitsch Mortin, der Leiter des Zentrums, hätten sich die Jungen und Mädchen die Motive ihrer Bilder frei aussuchen dürfen. Er habe sie bei ihrer Auswahl allerdings unterstützt und „angeleitet“. Anleiten, führen und Richtung geben wird großgeschrieben in Belarus – in der Pädagogik wie in der Politik. So wie Lehrer und Pädagogen in den unzähligen Clubs und Freizeitzentren die jungen Menschen zu erziehen versuchen, so zeigt auch Präsident Aleksander Lukaschenko seinen Landsleuten, wohin der Weg des Landes geht. Nicht von ungefähr trägt er den Kosenamen „Batka“ (Vater). Selbstbestimmung, Eigeninitiative und Kritikfähigkeit sind da eher zweitrangig oder gar unerwünscht. Auch das gilt gleichermaßen für Pädagogik wie Politik. Als autoritäres System mit einem seit mehr als 20 Jahre herrschenden Präsidenten, in dem Wahlbetrug und die Verfolgung der Opposition an der Tagesordnung sind, so wurde und wird die Republik Belarus im übrigen Europa deshalb wahrgenommen. Doch die Gewichte haben sich in den vergangenen zwei Jahren fast unbemerkt verschoben. Das hat unter anderem wirtschaftliche Gründe. 2015 verzeichnete Belarus erstmals seit 1994 eine deutliche Rezession. Diese setzte sich 2016 fort, begleitet von einer massiven Abwertung der Landeswährung, des Belarussischen Rubel, und einem merklichen Absinken des durchschnittlichen Monatslohns. Die Angst davor, dass immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte abwandern, ist überall spürbar. Echte Patrioten seien Menschen, die dorthin gingen, wo ihr Land sie brauche, und es nicht verließen, wenn es schwierig werde, betont beispielsweise Igor, ein ehemaliger Russischlehrer aus dem Städtchen Hlusk. Und Bildungsminister Michail Zhurakow gibt im Gespräch ganz offen zu, dass ihm die Abwanderung von Akademikern großes Kopfzerbrechen bereitet. Für den Bildungsminister ist die Öffnung nach Westen ein Weg, um das Land für seine Leistungsträger attraktiver und die Wirtschaft konkurrenzfähiger zu machen. Zhurakow hofft daher auf einen Beitritt der weißrussischen Universitäten zum europäischen Bologna-System und den damit verbundenen Austausch. Russischlehrer Igor dagegen bekennt, dass er der Sowjetzeit nachtrauert. Lag doch Weißrussland damals quasi eingebettet in die UdSSR und nicht wie heute am Rand Europas – mit fast unüberwindlichen Grenzen zu den EU-Staaten Lettland, Litauen und Polen sowie in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kriegs- und Krisenstaat Ukraine. Ungehindertes Reisen ist nur noch Richtung Russland möglich. Den „großen Bruder“ im Nordosten beobachten die Belarussen inzwischen mit zunehmender Sorge. Nicht jeder wird allerdings so deutlich wie der Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen Minsk. Putin sei „Scheiße“, sagt er, und legt schnell den Finger auf die Lippen. Die Ukrainer hätten es richtig gemacht, meint er. Sie hätten sich von Russland gelöst. Zwar herrsche dort derzeit Krieg, aber spätestens in zehn Jahren hätten es die Nachbarn sicher geschafft. Moskaus Unterstützung der separatistischen Bestrebungen in der Ost-Ukraine und Putins Wiederbelebung des Mythos „Neurussland“, zu dem neben der Ukraine auch Belarus gehören würde, hat die Weißrussen offenbar stark verunsichert.

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