Sport Die Weitsicht des Weitgereisten

Gernot Rohr betritt (wieder) die große Bühne des Fußballs – hier begrüßt von Englands Nationaltrainer Gareth Southgate (links).
Gernot Rohr betritt (wieder) die große Bühne des Fußballs – hier begrüßt von Englands Nationaltrainer Gareth Southgate (links).

«Essentuki.» Am 28. Juni wird Gernot Rohr 65 Jahre alt. Wenn der Weltenbummler und Afrika-Versteher mit den kurpfälzischen Wurzeln diesen Geburtstag noch in Russland, im WM-Quartier Essentuki am Fuß des Kaukasus, feiern darf, hat seine Mannschaft ziemlich viel richtig gemacht. Dann nämlich bereitet sich Nigeria nach überstandener Gruppenphase aufs Achtelfinale vor.

Der Afrika-Kenner weiß natürlich, dass dies einerseits ein Riesenerfolg für seine Auswahl („Die jüngste des Turniers“) wäre, andererseits in der Heimat beinahe als Selbstverständlichkeit angesehen würde. „Viele erwarten mindestens das Halbfinale“, sagt Rohr und lächelt milde. Er kennt diesen Spagat von seinen bisherigen Stationen Gabun, Niger, Burkina Faso. Europäische Vernunft trifft afrikanische Euphorie gepaart mit überzogenen Erwartungen. Der Mannheimer moderiert diese Gratwanderung stets mit Rationalität und Empathie, auf seine eigene, charmante Weise. Und mit der Weitsicht des Weitgereisten. Als Abwehrspieler von Kickers Offenbach bekam Gernot Rohr, vorher bei Bayern München und Waldhof Mannheim, ein Angebot aus Bordeaux. Bei Girondins machte er Karriere – und verliebte sich ins Land, ist seit 1982 Franzose. Als Trainer führte er Girondins 1996 ins verlorene Uefa-Cup-Finale gegen die Bayern, coachte danach OGC Nizza, den FC Nantes, Young Boys Bern, war Sportdirektor bei Eintracht Frankfurt. Libreville in Gabun wurde sein Einlaufhafen für Afrika. Für einen Feingeist wie Rohr mitunter ein schwieriges Pflaster – aber wer dem Zauber dieses Kontinents einmal erliegt... „Afrikanische Pünktlichkeit“, scherzte Rohr gegenüber der RHEINPFALZ, als er den „sehr herzlichen“ Empfang seines Teams um Chelsea-Star John Obi Mikel im russischen Quartier beschrieb: „Hunderte von Menschen standen auf der Straße und warteten bis nachts um eins drei Stunden bei frischen Temperaturen auf uns.“ Die „Super Eagles“ sind Rohrs bisher größte Aufgabe als Nationaltrainer. Mit der WM betritt er Neuland. Heute (21 Uhr) im Auftaktspiel gegen Kroatien heißt es eigentlich schon: verlieren verboten. Denn danach warten Island und vor allem Argentinien. „Das erste Spiel ist natürlich besonders wichtig, speziell für eine Mannschaft die jung ist und Selbstvertrauen braucht“, weiß Rohr, der gestern um den Einsatz des leicht verletzten Mainzers Leon Balogun bangte. Nach der Amtsübernahme vom Franzosen Paul Le Guen 2016 hat er die „Super Eagles“ umstrukturiert und verjüngt. Und er hat vor der WM aus seiner Sicht alles dafür getan, dass es nicht – wie früher immer wieder bei afrikanischen Teams geschehen – zu einem offenen Prämienstreit kommt: „Fast alles ist geregelt.“ Fast – ein solches Restrisiko bleibt eben immer, wenn man sich auf den Kontinent mit Haut und Haaren einlässt. Apropos junges Team: Im Tor vertraut Rohr Francis Uzoho (19), der bei Deportivo La Coruna spielt – in der zweiten Mannschaft. Die eigentliche Nummer 1, Carl Ikeme (32) von den Wolverhampton Wanderers, ist an Leukämie erkrankt. Beim jüngst mit 1:2 verlorenen WM-Test in Wembley gegen England konnte Ikeme sein Team nicht besuchen, „da er noch an den Folgen seiner Therapie leidet“, berichtete Rohr: „Aber er hat mir gesagt, dass er gerne zum dritten Spiel nach St. Petersburg kommen möchte, wenn es sein Immunsystem erlaubt.“ Das wäre das Duell mit Messi und Co. Ein gutes Ergebnis und der Besuch seines Torwarts („Wir denken an ihn, er gehört zu uns“) wären für Rohr die schönsten Geburtstagsgeschenke.

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