Fußball-EM Es war einmal: Wie Zauberer Klinsmann das Sommermärchen schuf
Es war einmal ein Land vor unserer Zeit, das viele nützliche Sachen herstellte, aber sich selbst nicht so recht liebte. Seine Bewohner galten als verbissen und humorlos… Da kam Zauberer Klinsmann mit seiner Truppe und verwandelte das arme, reiche Land. Die Leute waren nicht mehr verkrampft, sondern lässig, freundlich zu ihren Besuchern, bemalten ihre Gesichter, lagen sich vor Großleinwänden in den Armen und feierten Partys bis in den Morgen. Zum Zeichen ihrer neuen Selbstliebe hefteten sie Fähnchen mit den zuvor verpönten Landesfarben an Außenspiegel ihrer Autos. So stellt sich der liebe Gott die Welt vor, sagte der Kaiser des Festes. Es hieß fortan „Sommermärchen“.
Ist eine Neuauflage jener Tage im Jahr 2006 möglich? Das Land ist in keinem märchenhaften Zustand. Die Gäste aus Mailand und Madrid, aus London und Lissabon, aus Paris und Prag, in deren Garage ein Volkswagen steht und in deren Wohnung eine Waschmaschine von Miele, ein Kühlschrank von Bosch und ein Herd von Siemens zuverlässig arbeiten, reisen in ein Land, in dem sie eine Bummelbahn verspätet oder gar nicht zum Stadion bringt; in dem Brücken gesperrt sind wegen Einsturzgefahr und an Ladentüren Zettel hängen mit dem Hinweis „wegen Personalmangel montags geschlossen“; in dem Wahlkämpfer verprügelt, Polizisten niedergestochen und Studenten vom Hof ihrer Uni gejagt werden, nur weil sie Juden sind. Ein Land voller Zweifel, Zwietracht, Angst: vor Teuerung, vor Krieg und Terror, vor den Fremden.
Sie sollen schön kicken
Hat in einem solchen Albtraum ein großes Sportereignis überhaupt die Chance, ein Märchen zu erzählen? Gewiss nicht in der belehrenden Art, mit der beim WM-Turnier in Katar die deutsche Nationalelf eine Botschaft von Friede, Freude, Eierkuchen in die Welt setzen sollte. Das war peinlich und wirkte nur aufgesetzt. Fußballer eignen sich nicht als Volkspädagogen, sie sollen schön kicken und ihrem Publikum dadurch Freude bereiten. Tun sie aber genau das, dann haben sie das Zeug dazu, ein Land zu prägen und sogar zu einen, wenigstens für kurze Zeit. Wer beim Public Viewing nach dem Siegtor seinen Nebenmann herzt und küsst, fragt nicht, ob der Unbekannte AfD wählt oder dafür ist, der Ukraine den Taurus zu liefern.
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Foto: Imago Images/Beautiful Sports