Aus der Redaktion Wir wollten bei dieser Wahl einiges anders machen

Wahlplakate verkünden einfache Botschaften. In Wahrheit ist Politik sehr viel komplizierter.
Wahlplakate verkünden einfache Botschaften. In Wahrheit ist Politik sehr viel komplizierter.

Nicht Machtfragen, sondern Inhalte standen bei der Berichterstattung der RHEINPFALZ zur Bundestagswahl 2021 im Mittelpunkt. Außerdem versuchten sich die Redakteure an neuen Formaten.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
jede Parlamentswahl ist etwas Besonderes. Und jede ist eine neue Herausforderung für eine Zeitungsredaktion. Bei der Bundestagswahl am kommenden Sonntag ist vieles ganz besonders. Erstmals tritt kein Amtsinhaber mehr als Kanzlerkandidat an, dafür gibt es gleich drei Bewerbungen für die Nachfolge Angela Merkels: eine Frau und zwei Männer. Vermutlich so viele Briefwähler wie nie. Ein Wahlkampf immer noch unter Pandemie-Bedingungen. Eine Kampagne, die mehr denn je auch in den sozialen Netzwerken geführt wird.

Wir ahnten früh in der Redaktion, dass das „Triell“ auf Augenhöhe zwischen Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz das beherrschende Thema sein würde. Dabei ist die Wahl eine Bundestagswahl und nur indirekt eine Kanzlerwahl. Wir wählen mit der ersten Stimme unsere Wahlkreiskandidaten, mit der zweiten die favorisierte Partei. Mit beiden Stimmen entscheiden wir über die Zusammensetzung des Parlaments. Das sucht sich dann eine Mehrheit für die Kanzlerwahl.

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Koalitionen

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Ausführliches Vorstellen der Spitzenkandidaten

Warum betone ich das nochmals? Weil darin deutlich wird, wie wichtig es ist zu wissen, was die Wahlkreisabgeordneten und die Parteien eigentlich wollen.

Im laufenden Wahlkampf wird das leider total unterbelichtet. Stattdessen steht die Beobachtung der drei Kanzlerkandidaten im Mittelpunkt – und die fällt oft ziemlich oberflächlich aus.

Wir wollten etwas dagegensetzen: In unseren dreizehn Lokalausgaben haben wir die jeweiligen Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten und ihre Vorhaben für das Land und ihre Heimat ausführlich dargestellt. Die sechs Spitzenkandidaten der rheinland-pfälzischen Parteien, die im Bundestag sind, haben wir zum Redaktionsgespräch und zum Video-Interview eingeladen.

Programme gründlich studiert

Es sind dies Volker Wissing (FDP), Thomas Hitschler (SPD), Julia Klöckner (CDU), Sebastian Münzenmaier (AfD), Alexander Ulrich (Linke) und Tobias Lindner (Grüne, männlicher Spitzenkandidat). Wir hatten die Parteiprogramme zur Vorbereitung gründlich studiert. Diese sind bis zu 200 Seiten dick. Fragen nach Macht, Koalitionen und persönlichen Ambitionen kamen erst zum Schluss dran.

Am Ende hatten wir den Eindruck, dass unsere Politikerinnen und Politiker meist besser sind als ihr Ruf: ziemlich sattelfest in der Programmatik, jeder mit eigenem Expertenwissen, durchaus kritisch gegenüber der eigenen Partei und gegenüber sich selbst, meist sachlich im Umgang mit dem politischen Gegner. Einzig zum AfD-Kandidaten passt diese Beschreibung nicht. Die sechs Video-Interviews erzielten eine gute Reichweite.

Zwei neue Formate

Die Parteiprogramme standen auch im Mittelpunkt zweier neuer Formate, die wir gewagt haben.

Unsere Berliner Redakteure Hartmut Rodenwoldt und Winfried Folz haben Fünf-Minuten-Videos gedreht zu fünf Themen: Digitalisierung, Rente, Steuern, Klima und Mobilität. Dabei haben sie die wichtigsten Argumente aus den sechs Parteiprogrammen präsentiert. Das Ganze lustig eingebettet und auch mit Pfälzer Zungenschlag. Informativ, unterhaltsam und von RHEINPFALZ-Qualität. Die Resonanz hat uns etwas enttäuscht, aber nicht entmutigt. Sie können die fünf Videos auf rheinpfalz.de und auf YouTube noch sehen. Es lohnt sich wirklich – versprochen!

Was wäre, wenn ...

Unser Politik-Redakteur Wolfgang Blatz hatte die Idee, faktische Reportagen zu schreiben: Was wäre, wenn … die Grünen oder die AfD, die CDU, die FDP, die Linke, die SPD die absolute Mehrheit holen würden am Sonntag – und alleine regieren könnten? Wie würde sich das Leben erdachter Menschen in einer fiktiven pfälzischen Kleinstadt dann ändern?

Was für eine Arbeit. Daraus wurden ganzseitige Reportagen, angefertigt von Wolfgang Blatz (Grüne), Rolf Gauweiler (Linke), Ralf Joas (AfD), Hartmut Rodenwoldt (CDU), Adrian Hartschuh (FDP) und mir (SPD). Und diesmal hat uns die überaus positive Resonanz total überrascht. Selten haben wir für so große Artikel auch im Netz so viel Interesse gefunden.

Es gibt Unterschiede

Wir haben, stellvertretend für Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Parteiprogramme sehr gründlich durchforstet und haben dabei selbst viel gelernt. Nur zu gerne wird ja behauptet, die Parteien glichen sich einander immer mehr an. Das ist falsch.

Die Unterschiede bei den wichtigsten Themen Klima und Umwelt, Digitalisierung, Bildung und Kultur, Verkehr, Steuern, Landwirtschaft, Gesundheit und Pflege, Einkommen, Europa und Sicherheitspolitik sind immens; zwischen AfD auf der ganz rechten und den Linken auf der ganz linken Seite sowieso, aber eben auch zwischen allen anderen.

Die Parteien gleichen sich nur in den Punkten an, bei denen sie eine mehrheitliche Zustimmung in der Wählerschaft erwarten.

So viele Kompromisse wie nie?

Aber in der Hauptsache sind wir Wähler es, die eine Angleichung der unterschiedlichen Programme im schließlich auszuhandelnden Regierungsprogramm erzwingen: Denn unsere Stimmabgabe führte im Bund schon immer zu Koalitionen. 2021 werden wir vermutlich sogar eine Regierung aus drei Parteien herbeiführen.

Mehr Kompromiss in einem Regierungsprogramm wird es dann noch nie gegeben haben.

Zum Schluss noch ein selbstkritisches Wort zu den Medien. Unsere rheinland-pfälzischen Spitzenkandidaten haben uns nach den Redaktionsgesprächen fast unisono gesagt, es gebe nicht mehr so viele Journalisten, die sie nach ihren Programmen und Überzeugungen sachkompetent fragten. Diese Klage hören auch unsere beiden Berliner Korrespondenten und unsere Mainzer Landeskorrespondentin Karin Dauscher.

Hoffentlich eine Hilfe

Nun, wir von der RHEINPFALZ haben uns bemüht, aufzuzeigen, worum es wirklich geht bei der Bundestagswahl 2021. Hoffentlich hat es Ihnen geholfen bei Ihrer Stimmabgabe per Brief oder für Ihren Urnengang am Sonntag.

Sie kennen vielleicht meine Überzeugung: Wählen ist Bürgerpflicht. Der Wahltag ist ein Festtag der Demokratie. Wenn ich auf die Pseudo-Wahl vergangene Woche in Russland schaue oder über den Personenkult um den chinesischen Autokraten Xi Jinping lese, wird mir umso bewusster: Unsere Demokratie ist ein Schatz. Sie hat es verdient, dass wir sie gemeinsam besser machen.

Herzliche Grüße

Ihr Michael Garthe

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