Politik Vor den Parlamentswahlen in Italien: Die vergessene Generation
Donatello Prunella sitzt am Tisch im Garten seiner Familie in Conversano, einer kleinen Stadt in der süditalienischen Region Apulien. Der 23-Jährige studiert Ingenieurwissenschaften an der Universität in Bari, 35 Kilometer nördlich von hier. Das Studium sei für ihn kein Vergnügen, sagt Donatello. „Ich habe das Fach nicht gewählt, weil es mir gefällt, sondern weil es in diesem Sektor ziemlich sicher ist, dass ich Arbeit finden werde.“ Dabei ist die Presse voll von Meldungen des Aufschwungs. Die Arbeitslosenquote lag in Italien Ende vergangenen Jahres bei 10,8 Prozent – so niedrig war sie laut der Statistikbehörde seit 2012 nicht mehr. Zwischen 2016 und 2017 ist auch die Anzahl der unter 25-jährigen Arbeitslosen um 6,9 Prozentpunkte gesunken, sie liegt aber noch bei 32,2 Prozent. Dennoch, Donatello ist realistisch. Denn die Zahl, die in den meisten Berichten nicht erwähnt wird, ist die der Arbeitslosen zwischen 25 und 34. Einem Alter, in dem das Studium oder die Ausbildung abgeschlossen ist und viele anfangen, über Familienplanung nachzudenken. Oder eben nicht. Rund 18 Prozent dieser Altersklasse sind in Italien arbeitslos. Im aktuellen Wahlkampf buhlen die Politiker mit blumigen Versprechen um die Gunst der Wähler. Anders als die meisten seiner Altersgenossen weiß Donatello schon, wem er am 4. März seine Stimme geben wird. „Ich wähle die Fünf-Sterne-Bewegung“, sagt er bestimmt. In den vergangenen 20 Jahren habe sich sowohl unter rechten als auch unter linken Regierungen nichts geändert. „Die Politiker hatten immer nur ihren eigenen Vorteil im Kopf, aber nicht das Wohl des Landes.“ Der populistischen Bewegung von Ex-Komiker Beppe Grillo traut er das Gegenteil zu. Von den unter 35-jährigen Italienern sind wenige Tage vor der Wahl zwei Drittel unentschieden, wen und ob sie überhaupt wählen werden. Von denen, die es schon wissen, wollen rund 33 Prozent wie Donatello für die Fünf-Sterne-Bewegung stimmen, sechs Prozentpunkte mehr als der nationale Durchschnitt. Der regierende sozialdemokratische Partito Democratico käme in dieser Altersklasse auf 18,9 Prozent (national 23), die Forza Italia auf 14,9 (16,3) und die Lega auf 14,3 (13,2). Filippo Boldrini zählt zu den „indicisi“, zu denjenigen, die noch nicht wissen, wo sie ihr Kreuz machen werden. Dabei liegt der Wahlzettel schon auf seinem Tisch. Als Italiener, der im Ausland lebt, wurden ihm die Unterlagen für die Briefwahl bereits in seine Wohnung am Prenzlauer Berg nach Berlin geschickt. Filippo ist 33 Jahre alt, stammt aus San Miniato in der Nähe von Florenz und lebt seit September 2012 in Deutschland. In Bonn hat er sein deutsch-italienisches Studium abgeschlossen. In Berlin hat er Arbeit gefunden. 115.000 Italiener haben 2016 ihr Land verlassen, so viele wie seit der großen Auswanderungswelle in den 1960er und 1970er Jahren nicht mehr. In den vergangenen zehn Jahren ist die Anzahl der im Ausland lebenden Italiener von rund drei Millionen auf fast fünf Millionen angestiegen. Und das sind nur diejenigen, die sich offiziell aus ihrer Gemeinde in Italien abgemeldet haben. Die tatsächliche Zahl dürfte noch viel höher liegen. Filippo hat früher, wie er erzählt, immer PD gewählt, also die Sozialdemokraten. „Nach 20 Jahren Berlusconismo hatten wir große Hoffnung in Matteo Renzi. Von ihm bin ich aber sehr enttäuscht. Er hat sich mit den Leuten von Berlusconi zusammengetan und seine Versprechen nicht gehalten.“ Für Filippo ist es bereits eine ausgemachte Sache, dass es nach der Wahl eine Koalition zwischen PD und Silvio Berlusconis Forza Italia geben wird, auch wenn das von beiden Lagern vehement bestritten wird. Für die Wirtschaft wäre eine Fortführung der Regierung des aktuellen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni in einem Bündnis mit der Forza Italia allerdings nicht das Schlechteste, glaubt Filippo: das kleinere Übel. Zurück in seine Heimat will Filippo nicht. Zumindest jetzt noch nicht. „Ich weiß, dass man in Italien weniger verdient als in Deutschland. Aber wenn mir eine Stelle angeboten wird, die mir gefällt, in einer Stadt, die mir gefällt – warum nicht?“ Filippo lebt in Berlin mit seiner Freundin zusammen. Sie ist Deutsche. Im Herbst wollen die beiden heiraten. Maria Teresa Teofilo hat mit Filippo zusammen studiert. Die 29-Jährige schiebt den Gedanken an Heirat und Kinder weit von sich. Maria Teresa stammt aus Polignano a Mare bei Bari, heute lebt und arbeitet sie in Massa Marittima, einer kleinen Stadt bei Grosseto in der Toskana. „Ich habe mich bewusst entschieden, nach dem Studium in Deutschland nach Italien zurückzugehen“, sagt sie. Das Heimweh nach den Freunden, der Familie und der Sonne sei einfach zu groß gewesen. Seit Oktober vergangenen Jahres unterrichtet Maria Teresa an einer staatlichen Berufsschule, ihr Vertrag ist auf neun Monate befristet. „Am 13. Juni bin ich wieder arbeitslos. Aber ich hoffe, dass ich im September wieder einen Platz in dieser Schule bekomme.“ Eine Familie wünsche sie sich, einen Freund hat sie auch. „Ich bin fast 30 Jahre alt, natürlich denke ich darüber nach.“ Aber im Moment sei es einfach nicht möglich, ohne einen festen Vertrag, ohne eine sichere Zukunft. „Das ist ein großes Problem in diesem Land“, sagt Maria Teresa. 2017 kamen in Italien etwa 464.000 Kinder zur Welt. Zwei Prozent weniger als 2016. Die Geburtenrate liegt derzeit bei 1,39 Kindern pro Frau, ein Rekordtief. Damit ist der Stiefelstaat Schlusslicht in der EU. „Die Situation für junge Leute ist in Italien in den letzten Jahren noch schlechter geworden“, findet Maria Teresa. Viele ihrer Freunde seien bereits nach Deutschland oder Frankreich ausgewandert. Und haben dort eine Familie gegründet. Am 4. März wird Maria Teresa die Fünf-Sterne-Bewegung wählen. Warum? „Das sind junge Leute, mit anderen neuen Ideen.“ Neue Ideen hatten auch Chiara Finotti und Pier Palumbo im Gepäck, als sie im September vergangenen Jahres wieder nach Italien kamen. Eineinhalb Jahre zuvor hatten sich die gelernten Sommeliers aus ihrer Heimatregion, dem Piemont, aufgemacht nach Kalifornien, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. „Nach Jahren in der italienischen Gastronomie wollten wir einfach etwas Neues erfahren“, sagt Pier. Nun sitzt das junge Paar an dem großen Holztisch vor der Glasfensterfront. Die Aussicht aus der Küche ist atemberaubend: 1,5 Kilometer von Alba entfernt thront das moderne Domizil der beiden auf den Hügeln des Piemont – und gibt den Blick auf unendlich scheinende Weinberge frei. Pier ist in Moncalieri aufgewachsen, Chiara in Montanaro. Beide kennen die für ihren Wein berühmte Region in- und auswendig. Zwei Zimmer vermieten sie in ihrer „Villa Alba“, in der sie selber wohnen. Ihren Gästen wollen sie die italienische Lebensweise nahebringen. „Wir nehmen die Gäste, wenn sie wollen, mit zum Einkaufen in den Supermarkt, kochen mit ihnen, oder sitzen abends einfach mit einem Glas Wein mit ihnen zusammen“, erklärt Chiara das Konzept. „Wir wollten das, was wir in Napa Valley erlebt haben, nach Italien, in unsere Heimat bringen.“ Vor wenigen Wochen kam zu dem Hotelbetrieb ein weiteres Projekt hinzu: Der nach eigener Aussage erste Weinclub Italiens. Die Mitglieder schließen eine Art Abonnement ab und erhalten in regelmäßigen Abständen eine Auswahl an unterschiedlichen Weinen – von Chiara und Pier ausgewählt. Wem sie am 4. März ihre Stimme geben werden, verraten die beiden nicht. Wählen werden sie aber auf jeden Fall. „Auch wenn wir beide sehr enttäuscht darüber sind, welche Rolle das alltägliche Leben für die Politiker heute spielt“, sagt Pier. „Die haben alle den Kontakt zur Realität verloren.“