„Wokeness“ Sind Weiße immer rassistisch?

 Der Historiker Andreas Rödder, die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU, Mitte) und Linda Teuteberg (FDP)
Der Historiker Andreas Rödder, die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU, Mitte) und Linda Teuteberg (FDP) nehmen am Berliner Kongress »Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?« teil.

Linke Identitätspolitik hat den Anspruch, den Blick für Diskriminierung zu schärfen und Minderheiten eine Stimme zu geben. Kritiker der auch als „Wokeness“ bezeichneten Bewegung sehen indes ein Übermaß erreicht.

Der 62 Jahre alte weiße Mann Dieter Nuhr ist gegen gendergerechte Sprache. „Dieser Glaube, die Realität würde sich der Sprache anpassen, ist ja ohne jeden Beleg und ein Zeichen für ideologischen Kontrollwahn“, sagte der Kabarettist vor einiger Zeit in einem Interview. Seine Haltung hat ihm neben dem ein oder anderen Shitstorm auf sozialen Netzwerken auch Unterstützung eingebracht. Am Montag jedenfalls war Nuhr der wohl prominenteste Teilnehmer eines Berliner Kongresses zum Thema „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“

Organisiert wurde die Veranstaltung von der Denkfabrik Republik21 (R21) für „neue bürgerliche Politik“. Mitinitiator ist der Berliner Islamismus-Experte und Psychologe Ahmad Mansour. Er kritisierte auf dem Kongress, es sei mittlerweile schwer, konkrete Probleme in Zuwanderergruppen überhaupt noch anzusprechen, weil dies von vornherein als rassistisch hingestellt werde. Seine Haltung sei jedoch: „Wer mich vor meinen Kritikern schützen will, hält mich für ein Kleinkind, hält uns Migranten für Leute, denen man nicht auf Augenhöhe begegnet. Und das ist nichts anderes als Rassismus.“

Ursprung in Nordamerika

Um zu verstehen, über was nun auch in Deutschland mit zunehmender Verve diskutiert wird, muss man nach Nordamerika blicken. Der aus den USA stammende Begriff „woke“ bedeutet so viel wie „wach sein“. Er bezog sich anfangs allein auf rassistische Diskriminierung. „Stay woke!“ hieß in den USA und Kanada so viel wie: „Schau hin und tu was, wenn Schwarze schlecht behandelt werden!“ Im Laufe weniger Jahre bezog sich die Bedeutung auch auf andere Minderheiten. Zuletzt lag der Fokus stark auf Transmenschen, also auf einer Gruppe, die die Festlegung des Geschlechts durch biologische Gegebenheiten ablehnt und stattdessen kulturelle Gründe für eine Festlegung ins Feld führt.

Wer sich heute in Deutschland dazu bekennt, „woke“ zu sein, hat den Anspruch, einen geschärften Blick für Ungerechtigkeiten aller Art zu haben. Unter Umständen fallen dann Dinge auf, die vorher nie infrage gestellt worden sind. Zum Beispiel: Warum läuft im Fernsehen ganz viel Männer- und nur sehr wenig Frauensport?

Endlich mal still sein

Zum „Woke-Sein“ gehört meist auch das Gendern. Der emanzipatorische Ansatz dahinter ist, dass Frauen – und Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen – so lange benachteiligt worden sind, dass sie jetzt ein Recht darauf hätten, deutlich sichtbar und gehört zu werden.

Der vielzitierte „alte weiße Mann“ hingegen steht für jene Gruppe, die nie aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe diskriminiert worden sei. Deshalb soll der „alte weiße Mann“ jetzt erstmal still sein, schließlich habe er – so die Kritiker der „Woke“-Fraktion – jahrhundertelang fast als Einziger geredet.

Als zunehmend kritisch wird dabei gesehen, wenn gutwillige „alte weiße Männer“ versuchen, sich in Angehörige von Minderheiten hineinzuversetzen. Das, so heißt es von der „Woke“-Seite oft, sei anmaßend. Begründung: Einem dermaßen privilegierten Menschen könne das Sich-Einfühlen in die Situation Unterprivilegierter sowieso nicht gelingen.

Diskriminierung als Basis

Solche Argumente der „Wokeness“-Vertreter halten die Mitglieder von R21, der Denkfabrik Republik21, für problematisch. R21-Leiter Andreas Rödder, zurzeit Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington, meint: „Die Verhältnisse in den USA sind zwar nicht automatisch eine Blaupause für die Entwicklung in Deutschland, aber die Parallelen sind kaum zu übersehen.“ Er erlebe selbst, wie in den Schulen an der Ost- und Westküste die Vorstellung verbreitet werde, dass Weiße strukturell rassistisch seien und die ganze bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung auf Diskriminierung beruhe. „Das sickert längst auch ein in die Diskurse in Europa und Deutschland.“

Rödder ist Historiker, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und CDU-Mitglied. Rödders Stellvertreterin ist die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, ebenfalls CDU. Gleichwohl versteht sich R21 als überparteiliche Vereinigung.

Wegen Bedenken gestrichen

Als Beispiel dafür, dass das „Woke“-Denken mittlerweile nicht nur in Nordamerika (und Großbritannien) verbreitet ist, führt R21 den Fall der Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht an. Sie wollte in einem Vortrag an der Humboldt-Universität in Berlin laut Vorankündigung aussprechen, dass die Biologie nur zwei Geschlechter kenne. Dies führte zu Protesten – auch weil Vollbrecht einen „Welt“-Beitrag mit dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ mitverfasst hatte. Darin hieß es, Aktivisten mit einer „’woken’ Trans-Ideologie“ unterwanderten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Vollbrechts Vortrag wurde daraufhin von der Universität zunächst wegen Sicherheitsbedenken gestrichen, dann aber nach Kritik an dieser Entscheidung nachgeholt. „Das Entscheidende ist das Signal, das davon ausgeht“, sagt R21-Leiter Rödder. „Es schüchtert ein. Andere werden sich künftig zweimal überlegen, ob sie solchen Ärger riskieren wollen.“ Kritiker sprechen hier auch von „Cancel Culture“, also von einer Ächtungskultur, die den Ausschluss missliebiger Personen (und Ideen) bewirken will.

Kampagnen auch von rechts

In einem am Montag in Berlin veröffentlichten Manifest warnt R21 vor einer Bedrohung der freien Gesellschaft durch linke Identitätspolitik. Allerdings gibt es auch zahlreiche Beispiele für rechte Cancel-Culture-Kampagnen. So wurde 2019 das sogenannte „Umweltsau“-Lied des WDR-Kinderchors, das mangelndes Umweltbewusstsein von Älteren in Zeiten des Klimawandels anprangerte, nach einem massiven Shitstorm gelöscht. Die radikalen Rechten profitieren von der linken Identitätspolitik, weil sie deren Absurditäten für ihre Zwecke ausschlachten und Ressentiments schüren können. Dies führe zu einer immer weiter fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft, sorgt sich R21. Dies zeige sich am Beispiel USA, wo sich eine radikale Rechte und „woke Linke“ gegenseitig anstachelten.

Rödder ist überzeugt: „Die Gefahr einer Polarisierung der Öffentlichkeit droht auch in Deutschland.“ Zugleich betont er, dass er „selbstverständlich“ für Rücksicht und bürgerlichen Anstand etwa im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten wie Transmenschen eintrete. Nicht in Ordnung sei dagegen, Diskussionen mit der Begründung abzublocken, Betroffene könnten sich dadurch verletzt fühlen.

Eine kontroverse Diskussion gesellschaftlicher Phänomene müsse möglich bleiben – „alles andere wäre absurd.“

x