Coronavirus Sagen die Zahlen zu den Corona-Neuinfektionen wirklich die ganze Wahrheit?

Reisezeit, Risikozeit? Stecken sich viele im Urlaub an, wie hier an der Nordsee?
Reisezeit, Risikozeit? Stecken sich viele im Urlaub an, wie hier an der Nordsee?

Die Corona-Infektionszahlen steigen. Politiker mahnen zur Vorsicht. Allenthalben heißt es: „Reiserückkehrer haben das Virus im Gepäck.“ Oder: „Familienfeiern sind ein Infektionsrisiko.“ Das klingt plausibel. Doch die Datenbasis ist dünn.

Zahlen lügen nicht. Sie kommen so objektiv daher. Aber sagen sie auch die ganze Wahrheit? Seit gut einer Woche steigen die laborbestätigten Corona-Infektionszahlen. Inzwischen werden wieder fast täglich über 1000 Neuerkrankungen gemeldet. Ob Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) oder Regierungssprecher Steffen Seibert, ob das Robert-Koch-Institut oder Landespolitiker – sie alle mahnen, sie appellieren, sie sorgen sich. Unausgesprochen schwingt da meist mit: Ginge die Entwicklung so weiter, müssten Bundesregierung und Landesregierungen wieder schärfere Einschränkungen beschließen.

Indes: Worauf die Steigerungsraten zurückzuführen sind, ist nicht so klar wie es manche Politikeraussage vermuten lässt. Eine klare Diagnose aber ist wichtig für politische Entscheidungen, die gegebenenfalls auch vor den Gerichten Bestand haben müssen.

Immer wieder werden als ein Grund Reisende genannt, die mit dem Virus im Gepäck heimkehren. Oder Teilnehmer an Familienfeiern. Und war da nicht auch jene Gruppe, die sich in der kroatischen Partyhochburg Novalja infiziert und anschließend viele Gäste auf einer Geburtstagsfeier in einem Stuttgarter Club angesteckt hat?

Kann die Steigerung was mit den Tests zu tun haben?

Sie kann nicht nur, sie hat auch was mit der Anzahl der Tests zu tun. Frei nach dem Motto: Wer wenig testet, findet wenig; wer viel testet, findet viel. Sowohl bei den Testkapazitäten als auch bei der tatsächlichen Anzahl von Tests hat es in den vergangenen Wochen gewaltige Verschiebungen gegeben.

Beispiel Labore: In der elften Kalenderwoche, also in der Zeit vom 9. bis 15. März, haben nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) 28 Labore für Tests auf das Coronavirus zur Verfügung gestanden. In der 31. Kalenderwoche (27. Juli bis 2. August) hat sich die Anzahl auf 145 erhöht.

Beispiel Anzahl Tests: Inzwischen werden ungleich mehr Proben genommen und auf das Virus untersucht. Die Anzahl hat sich zwischen der zehnten Kalenderwoche (2. bis 8. März) und der 31. Kalenderwoche (27. Juli bis 2. August) mehr als vervierfacht. In absoluten Zahlen: von knapp 125.000 auf knapp 574.000 in der Woche.

Trotz dieser Steigerung könnten übrigens noch mehr Tests gemacht werden. Denn die Labore haben inzwischen eine Wochenkapazität von 1,167 Millionen Fällen aufgebaut. Die Daten stammen vom RKI.

Um zu veranschaulichen, was das bedeutet, zwei Tagesbeispiele: Am 27. April sind dem RKI 1018 laborbestätigte Neuinfektionen gemeldet worden. In der Woche davor sind knapp 364.000 Tests gemacht worden. Die Statistik vermeldet für den 6. August annähernd so viele Neuinfektionsfälle, nämlich 1045. Allerdings sind in der vorangegangenen Kalenderwoche knapp 574.000 Proben untersucht worden. Das sind knapp 210.000 mehr als am 27. April.

Ist die Sache mit den Reisenden wirklich so klar?

Der Satz ist eindeutig. Er ist zu lesen im Lagebericht des RKI vom 11. August. Es geht an dieser Stelle um den wahrscheinlichen Ort der Infektion von positiv Getesteten. Der Satz lautet: „Seit Meldewoche 21 ist ein Anstieg zu verzeichnen, der in der Meldewoche 32 bei 31 Prozent (1777 Fälle) liegt.“ Demnach sind also in der vergangenen Woche Reiserückkehrer für fast ein Drittel der Neuinfektionen verantwortlich gewesen.

In Nordrhein-Westfalen geht nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums jede vierte Neuinfektion auf das Konto von Reiserückkehrern. In diese Zahl mit eingerechnet sind auch Heimkehrer, die innerhalb Deutschlands unterwegs waren.

Klarer Fall? Nicht bei näherer Betrachtung. Denn generell gilt laut RKI: Bei knapp einem Drittel der bis zum 11. August insgesamt übermittelten 217.293 Corona-Fällen liegen dem RKI gar keine Angaben „zum wahrscheinlichen Infektionsland vor“, heißt es im Lagebericht. Bedeutet: Bei mehr als 72.000 Erkrankten ist der Infektionsort dem RKI nicht bekannt.

Ferner: Die einfache Frage „Wie viel Prozent der Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen sind laborbestätigt auf Reiserückkehrer zurückzuführen?“ kann das Bundesgesundheitsministerium offenbar nicht beantworten. Denn eine Ressortsprecherin erklärt: „Das Bundesgesundheitsministerium selbst führt keine eigenen Statistiken“ – und verweist auf das Robert Koch-Institut. Doch die unterordnete Behörde, die den Anteil der Reiserückkehrer an den Neuinfektionen in einem Lagebericht noch mit 31 Prozent angegeben hat, räumt ein: „Wir haben derzeit keine Testzahlen speziell zu Reiserückkehrern.“

Aus welchen Ländern reisen Infizierte ein?

Ein paar Zahlen zu Neuinfizierten kann das RKI immerhin nennen. Demnach haben sich im Zeitraum 13. Juli bis 9. August offenbar 1096 Personen im Kosovo angesteckt, 501 in der Türkei, 260 in Kroatien, 196 in Serbien. Mit Ausnahme von Kroatien gelten alle diese Länder als Risikogebiete.

Und wie ist das mit den Familienfeiern?

Immer wieder weist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf das Infektionsrisiko auf Familienfeiern oder Partys hin. Allerdings beantwortet das Bundesgesundheitsministerium die Frage nicht, auf welcher empirischen Grundlage der Minister diese Aussage trifft. Der Grund könnte sein: Es gibt keine, mindestens keine gesicherte. Denn das Robert Koch-Institut erklärt in diesem Zusammenhang, „dazu liegen zum derzeitigen Zeitpunkt keine Informationen auf nationaler Ebene vor. Derzeit passen wir die Software für die Fallerfassung an, damit diese Informationen detaillierter erfasst werden können.“

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