Fragen und Antworten Russlands Drohungen: Was es mit taktischen Atomwaffen auf sich hat

Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) zusammen mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Militärübung im Septembe
Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) zusammen mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Militärübung im September 2021.

Der russische Krieg gegen die Ukraine wird begleitet von der Befürchtung, dass Moskau Nuklearwaffen zündet. Doch was bringen taktische Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld?

Es sind keine direkten Drohungen, die seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar aus Moskau kommen. Es sind Andeutungen, Anspielungen, den Einsatz von Atomwaffen zu erwägen. Mal kommen sie von Kremlchef Wladimir Putin, mal von Untergebenen. Der Atomwaffenexperte Liviu Horovitz von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat allein zwischen Mitte Februar und Ende April etwa 20 entsprechende Aussagen gezählt. Im Zentrum der Diskussion darüber stehen die sogenannten taktischen Nuklearwaffen.

Was ist der Unterschied zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen?
Der Unterschied bezieht sich vor allem auf die Trägersysteme. Strategische Atomwaffen werden zum Beispiel auf Interkontinentalraketen montiert. Sie sollen weite Distanzen zurücklegen, feindliche Hauptstädte jenseits des Ozeans treffen können. Sie sind zentrales Element der Abschreckung, wie sie nicht nur im Kalten Krieg gegolten hat.

Taktische Atomwaffen fliegen weniger weit und haben generell eine geringere Sprengkraft, wie Horovitz sagt. Sie sind zum Einsatz auf dem Gefechtsfeld gedacht.

Sind taktische Atomwaffen also harmloser?
Diese Waffen sind ebenfalls äußerst zerstörerisch, wobei das Ausmaß vom verwendeten Sprengkopf abhängt. SWP-Experte Horovitz sagt, die Sprengkraft reiche hier von weniger als einer Kilotonne (1000 Tonnen TNT) bis zu 300 Kilotonnen. Zum Vergleich: Die Atombombe, die 1945 Hiroshima traf, hatte eine Sprengkraft von 12,5 Kilotonnen.

Wie schlimm wäre die Strahlung?
„Viele Leute glauben, nach der Explosion einer Atomwaffe sieht es in Sachen Radioaktivität wie nach Tschernobyl aus“, sagt Horovitz, „das ist nicht der Fall.“ Entscheidend sei, wie viel spaltbares Material es gebe. Im Atomkraftwerk Tschernobyl gab es viel radioaktives Material im Reaktor, weil man da Energie produzieren wollte. Darum gehe es aber nicht bei Waffen. „Bei einer Atomwaffe steht die große Explosion im Vordergrund, die Feuerwelle, die Zerstörung vor Ort“, erklärt der Fachmann.

Walter Rüegg, ehemaliger Chefphysiker der Schweizer Armee, sagte der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ), dass die Strahlenwirkung taktischer Atomwaffen recht gering sei. Der radioaktive Fallout kommt seinen Angaben zufolge bei Windstille in einem Umkreis von ungefähr zwei Kilometern auf die Erde. „Weht der Wind stärker, kann die Fallout-Zone auch 30 Kilometer und mehr lang sein, aber dann ist der Verdünnungseffekt umso größer“, ergänzte Rüegg.

Horovitz wiederum betont, dass das Ausmaß der austretenden Radioaktivität davon abhänge, wo die Bombe gezündet werde, wie groß also der Wirkkreis ist und welcher Art die Waffe ist. „Pi mal Daumen: Je größer die Waffe, desto größer die Strahlung“, sagt er. Aus seiner Sicht spielt die Strahlenbelastung im Umkreis von ein paar Dutzend Kilometern, maximal ein paar hundert Kilometern eine „bedeutende Rolle“. Sollte darüber hinaus etwas nachzuweisen sein, heiße das aber nicht, dass die Gesundheit von Menschen dadurch beeinflusst werde.

Ergäbe der Einsatz taktischer Nuklearwaffen militärisch Sinn für Putin?
Der Analyst Janne Kohonen schreibt auf Twitter, dass Nuklearwaffen dazu geeignet seien, viele Menschen zu töten oder mit der Tötung vieler Menschen zu drohen. Aber: „Sie sind keine Wunderwaffen, die Armeen auslöschen und Kriege in dem Moment beenden, in dem sie eingesetzt werden.“

Horovitz weist darauf hin, dass die Zündung von ein, zwei taktischen Atomwaffen militärisch keinen Sinn ergäbe. „Von einem solch limitierten Einsatz könnte sich die russische Regierung nicht viel auf dem Schlachtfeld erhoffen.“ Denn: Die Waffen verursachten an einer Stelle eine große Explosion. Wenn an dieser Stelle aber nicht viel Militärgerät ist, wird nicht viel zerstört.

Rüegg sagte der „NZZ“, dass moderne Panzer recht gut geschützt seien: „Eine kleine taktische Bombe müsste man wenige hundert Meter von einem Panzer entfernt zünden, um ihn außer Gefecht zu setzen.“

William Alberque von der Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) schreibt in einer Analyse, dass man mit modernen konventionellen Waffen einen ähnlichen militärischen Effekt erzielen könne wie mit taktischen Atomwaffen. Aus diesem Grund haben die USA ihre Stückzahl zuletzt reduziert. Russland soll dagegen über etwa 2000 taktische Nuklearsprengköpfe verfügen.

Fazit: „Wer sagt, die Waffen hätten keinen militärischen Nutzen, meint das mit dem Hintergedanken, die können doch nicht so unverantwortlich sein, in großem Maße Atomwaffen einzusetzen“, resümiert Horovitz.

Wie wahrscheinlich ist der Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland?
Die meisten Experten schätzen das Risiko derzeit als äußerst gering ein. Neben dem zweifelhaften militärischen Nutzen spielen weitere Faktoren eine Rolle. Horovitz hebt hervor, dass auf die indirekten Drohungen aus Moskau meist ein Dementi folgt: „Wahrscheinlich um eine Zuspitzung der Situation zu vermeiden.“

IISS-Experte Alberque meint, wenn die Russen es mit den Drohungen ernst meinten, hätten sie die ukrainischen Angriffe auf das russische Belgorod oder auf die Brücke zur Krim zum Anlass nehmen können.

Ein Einsatz von Nuklearwaffen hätte für Kremlchef Putin auch schwer kalkulierbare Risiken. Gut möglich, dass Verbündete wie China und Indien zu ihm auf Distanz gingen. An einer atomaren Eskalation haben weder Peking noch Neu-Delhi Interesse.

Zudem haben die USA eine scharfe Reaktion angekündigt, ohne dies – zumindest öffentlich - genauer auszuführen. Der Einsatz von Nuklearwaffen gilt indes als ausgeschlossen, weil dies das Risiko eines Atomkriegs drastisch erhöhen würde.

Alberque sieht auch innenpolitische Risiken: „Der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine könnte die Russen dazu zwingen, darüber nachzudenken, ob Putin bereit ist, im Austausch für einen kleinen Teil des ukrainischen Territoriums nationalen Selbstmord zu begehen.“

Wenn ein Einsatz von Nuklearwaffen eher unwahrscheinlich ist, was ist der Zweck der Drohungen?
Horovitz nennt drei Gründe: Erstens soll die Nato von einem direkten Eingreifen abgehalten werden. Aus russischer Sicht mag die Strategie in diesem Punkt erfolgreich sein, doch ist offen, ob der Westen sich überhaupt militärisch engagiert hätte. Zweitens soll der Westen von einer Unterstützung der Ukraine mittels Waffen und Geld abgehalten werden. Das ist allenfalls teilweise erfolgreich. Zwar sind die Verbündeten der Ukraine bei der Lieferung schwerer Waffen zögerlich, ansonsten erhält Kiew aber enorme Unterstützung. Drittens sollte der Ukraine Angst eingejagt werden, doch das hatte keine Wirkung.

Würde es der Westen mitbekommen, wenn Russland taktische Atomwaffen einsatzbereit machen würde?
Während strategische Atomwaffen innerhalb von Minuten abschussbereit sind, zum Beispiel von U-Booten, sind bei den taktischen Nuklearwaffen die Sprengköpfe in Depots und die Trägersysteme auf Militärbasen. Die Sprengköpfe müssten dann dorthin gebracht werden, erläutert Horovitz. Wenn die Russen dies massenweise tun würden, würden es die westlichen Geheimdienste nach eigener Einschätzung bemerken. Sollte das russische Militär aber nur ein oder zwei Waffen einsatzbereit machen, könnte es sein, dass dies nicht bemerkt werde.

Alberque schreibt in seiner Analyse, dass die russischen Streitkräfte vor dem Einsatz von Atomwaffen in eine erhöhte und auch sichtbare Alarmbereitschaft versetzt würden, um sich für einen möglichen Gegenschlag der Nato zu wappnen. Die erhöhte Alarmbereitschaft, die Putin nach Beginn der Invasion verkündet hat, sei hingegen nicht mehr als ein „System-Check“ gewesen.

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