Porträtiert Michael Kretschmer: Nah bei den Sachsen
Michael Kretschmer hat es wieder geschafft. „Ich finde“, rief der sächsische Ministerpräsident seinen Anhängern unter kräftigen Beifall zu, „wir haben allen Grund zu feiern.“ Mit einem zufriedenen Lächeln betrat der sächsische Spitzenkandidat die CDU-Wahlparty in Dresden. „Hinter uns liegen harte Jahre“, sagte ein gelöst wirkender Regierungschef. Er sei stolz darauf, dass die Menschen in Sachsen „uns vertraut“ haben.
In der Union war die Sorge bis zuletzt groß, dass der Spitzenplatz erstmals seit der Wiedergründung des Freistaats an die rechtsradikale AfD gehen könnte. Dass es für die Sachsen-Union wieder knapp für Platz eins reichte, hat auch mit dem rasanten Aufstieg des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu tun – aber auch mit der Beliebtheit Kretschmers.
Den Krieg „einfrieren“
„Wir gehen unseren eigenen sächsischen Weg“, gab der amtierende Regierungschef gerne zu Protokoll. Zuletzt eckte der 49-jährige Christdemokrat immer wieder mit seinen Ausflügen in die Weltpolitik an. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat Kretschmer verlangt, den Krieg „einzufrieren“. Auch legte er kürzlich der Ukraine einen zeitweiligen Verzicht auf die von Russland annektierten und besetzten Gebiete nahe. Zuletzt forderte der Ministerpräsident eine Volksabstimmung über die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen in Deutschland – wissend, dass ein solches Instrument im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist.
Etliche CDU-Parteifreunde empfinden Kretschmers Äußerungen insbesondere zu Russland als Zumutung. Sie kritisieren ihn scharf, lassen ihn aber gewähren. Politische Gegner werfen ihm mitunter vor, Positionen von AfD und BSW zu übernehmen und so deren Geschäft zu betreiben. Kretschmer hingegen spricht gern davon, dass „wir (im Osten, die Red.) besondere Sichtweisen haben“, nah an Russland dran seien. Sachsen hat bis zum Ukraine-Krieg intensiv Geschäfte mit Russland betrieben, weshalb es hier schon in der Vergangenheit einen russlandfreundlichen Kurs gab.
Leichter Spott in Dresden
Auch plädiert Kretschmer seit Längerem für eine grundlegende Änderung des Asylrechts in Deutschland. Auffällig oft vertritt er Positionen, von denen er weiß, dass sie im Freistaat mehrheitsfähig sind. Er beruft sich dabei auf seine unzähligen Gespräche im Land, die er seit Jahren auch jenseits von Wahlkämpfen führt. Kretschmer sucht den Kontakt zu den Menschen, lässt sich auch mal von Rechtsradikalen anpöbeln, erklärt seine Politik und die Demokratie. Stundenlang beantwortet er Fragen, macht sich Notizen.
In Dresden wird gespottet, dass es kaum noch einen Sachsen gebe, mit dem Kretschmer nicht gesprochen habe. Dabei ist diese Strategie der Bürgerdialoge aus der Not geboren worden. Seit 2002 pflegte der gebürtige Görlitzer seinen Heimat-Wahlkreis stets souverän zu gewinnen. 2017 hatte er jedoch bei der Bundestagswahl gegenüber einem damals nahezu unbekannten AfD-Mann, dem Malermeister Tino Chrupalla (dem heutigen Parteichef), das Nachsehen. Für „Mister Görlitz“, der 1989 der Christlich-Demokratischen Jugend der Blockpartei Ost-CDU beitrat und als 19-Jähriger im Stadtrat der deutsch-polnischen Grenzstadt seine politische Karriere begann, war dies ein Szenario, das bis zum Wahlabend jenseits seiner Vorstellungskraft lag – weshalb sich Kretschmer nicht über die Landesliste absichern ließ.
Neues Rezept
Auch für die Sachsen-Union als Partei war das damalige Wahlergebnis ein Debakel, CDU-Regierungschef Stanislaw Tillich nahm angesichts der Resultate seinen Hut – und schlug Kretschmer als Nachfolger vor. Es war viel liegen geblieben in Sachsen, und Kretschmers neues Rezept hieß von da an: Bürgernähe.