Politik Leitartikel: Raus in die Welt

Die Mehrheit der Studenten verbringt inzwischen einige Zeit im Ausland. Das ist nur eines der Ziele, die sich die EU-Bildungsminister vor 20 Jahren mit der Hochschulreform gesteckt haben. Andere Vorhaben sind jedoch gescheitert. Viele befürchten offenbar, dass sie als Bachelor-Absolvent keinen

guten Job bekommen.

Kürzer sollte das Studium werden, und stärker an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Die Studiengänge sollten vergleichbarer und der Wechsel an eine Hochschule im Ausland sollte erleichtert werden. So stellten sich die Bildungsminister Europas vor 20 Jahren die schöne neue Hochschulwelt vor. Mit der Unterzeichnung der Sorbonne-Erklärung wurde damals die Umstellung der europäischen Universitäten auf das sogenannte Bologna-System besiegelt. Was in Deutschland folgte, war ein schmerzhafter Umstellungsprozess. Das Chaos war groß, die Wogen schlugen hoch. Die Angleichung an das angelsächsische System der Bachelor- und Master-Abschlüsse wurde als „akademische Selbstverstümmelung“ kritisiert. Auch 20 Jahre später ist die Kritik in Deutschland nicht verstummt: Das Hochschulstudium habe an Niveau verloren, es sei unzumutbar verschult und die akademische Bildung komme zu kurz, beklagt beispielsweise der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Die Studentinnen und Studenten unserer Tage hätten keine Zeit mehr, über den akademischen Tellerrand zu schauen. Zudem gefährde der „Akademisierungswahn“ das Herzstück deutscher Qualifizierung: die berufliche Bildung. Wer Bilanz ziehen will, wie der Bologna-Prozess (benannt nach der Stadt, in der die Angleichung des akademischen Systems besiegelt wurde) die Hochschullandschaft verändert hat, stößt auf zwei Schwierigkeiten. Einmal ist es fast unmöglich, die Auswirkungen von Bologna von denen anderer bildungspolitischer Maßnahmen sauber zu trennen. Zweitens sind nicht alle Entwicklungen erforscht und statistisch einwandfrei belegbar. Dennoch kann man das Vorhaben der deutschen Bildungsminister, den Bachelor als berufsqualifizierenden Abschluss zu etablieren und dadurch die durchschnittliche Studiendauer zu verkürzen, guten Gewissens als gescheitert bezeichnen. Denn derzeit lassen 64 Prozent der Studierenden dem Bachelor noch einen Masterabschluss folgen. Viele befürchten offenbar, dass sie als Bachelor-Absolvent keinen guten Job bekommen. Dabei sind in der Wirtschaft offenbar beide Abschlüsse willkommen. Auch die Einkommensunterschiede, das zeigen Studien, sind nicht so gravierend, wie man meinen könnte. Ansonsten sind nur wenig Veränderungen feststellbar. Die Quote der Studienabbrecher bewegt sich seit mehr als 20 Jahren auf fast demselben Niveau (um die 25 Prozent). Und heute wie früher schafft nur eine Minderheit den Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit. Stark gewandelt haben sich dagegen die Studiengänge selbst – sowohl inhaltlich als auch von der Anzahl her: Rund 17.000 verschiedene Studienmöglichkeiten gibt es heute in Deutschland, ein fast unüberschaubarer Flickenteppich. Oft sind die Unterschiede kaum erkennbar und die Studienanfänger mit der Wahl hoffnungslos überfordert. Auf der Habenseite der Bologna-Reform schlägt zweifellos zu Buche, dass der Anteil derer, die ohne das klassische Abitur ein Studium beginnen, merklich gestiegen ist – auf inzwischen 40 Prozent. Größter Aktivposten ist aber, dass inzwischen die Mehrheit der Studenten in Europa mindestens ein Semester im Ausland verbringt. Durch die Angleichung der Hochschulsysteme ist dies einfacher geworden, wenn auch lange noch nicht einfach genug. Leider werden im Ausland erzielte Prüfungen noch immer nicht automatisch anerkannt. Dabei gibt es doch kaum etwas Wichtigeres für junge Menschen, als Erfahrungen außerhalb des eigenen – nationalen – Dunstkreises zu sammeln.

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