Politik Leitartikel: In Bewegung

Die Volksparteien leiden an Schwächeanfällen, in anderen EU-Ländern

noch mehr als in Deutschland. „Bewegungen“ dagegen haben Zulauf.

An diesen Trend hängt sich Sahra Wagenknecht an. Betrachtet man die Wähleranteile, sieht man: Aus zwei Volksparteien sind anderthalb geworden.

Nun also auch in Deutschland: „Aufstehen“ heißt das von der Linken-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht vorangetriebene Projekt einer linken Sammlungsbewegung. Diese soll vorgeblich dazu dienen, ein „Gegengewicht“ zu schaffen zu dem, was sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums gebildet hat. In Teilen von SPD und Grünen findet die Idee Zuspruch, überwiegend aber wird Wagenknechts Sammlung abgelehnt. Das ist nachvollziehbar, denn die SPD hat den Aderlass an Mitgliedern und Wählern durch die sich 2004/05 bildende Wahlalternative WASG bis heute nicht ausgleichen können. Und die Grünen haben vor allem dort Erfolg, wo sie sich als Partei der Mitte präsentieren. Auch bei der Linken stößt das Projekt der Fraktionschefin auf Skepsis, wird aber toleriert. Immerhin entstammt die Linke ja dem Zusammenschluss von PDS und WASG, hat also von der vom einstigen SPD-Vorsitzenden (und heutigen Wagenknecht-Ehemann) Oskar Lafontaine angeführten „Wahlalternative“ profitiert. Schon die WASG war eine Art linker Sammlungsbewegung – damals für unzufriedene SPD- und Gewerkschaftsmitglieder. Populismus war als Schlagwort noch nicht so gängig, aber Lafontaine spielte die Rolle des Volkstribuns überzeugend. Mit Forderungen wie Begrenzung der Zuwanderung hat Wagenknecht gezeigt, dass auch sie die Klaviatur des Populismus beherrscht. Dass ihr Projekt das ehrgeizige Ziel einer „linken Mehrheit“ erreichen wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Möglicherweise fragmentiert sich die Linke ein weiteres Mal. Ob nun der Wagenknechtsche „Aufbruch“ oder die Alternative für Deutschland, die sich ebenfalls als Sammelbecken jener versteht, die sich von den bestehenden Parteien nicht mehr repräsentiert sehen: Auch Deutschland folgt dem Trend, dass politische „Bewegungen“ unterschiedlichster Art den Volksparteien Konkurrenz machen. In anderen EU-Mitgliedstaaten ist die Erosion des Parteiensystems weiter fortgeschritten: In Frankreich waren Konservative und Sozialisten am Ende so schwach, dass République en Marche, die Bewegung des ehemaligen Sozialisten Emmanuel Macron, die Macht übernehmen konnte. In Spanien regiert eine linke Sammlungsbewegung mit, in Griechenland hat die linke Syriza Sozialisten und Kommunisten marginalisiert. In Italien ist die Regierung aus Linkspopulisten und Rechtspopulisten zusammengesetzt – mit welcher Perspektive auch immer. In Deutschland verändert sich das Parteiensystem nicht annähernd so dynamisch – wenn auch CDU, CSU und SPD mit jedem Jahr gemeinsamen Regierens Anhänger verlieren. Noch ist die Mehrheit der Wähler vor allem an einer stabilen Regierung interessiert. Stabilität aber beruht nicht nur auf parlamentarischen Mehrheiten, sondern auch auf Parteien, die in den Ländern und Kommunen verankert sind. Und da sind Union und SPD noch stark. Doch betrachtet man die Wähleranteile, sieht man: Aus zwei Volksparteien sind anderthalb geworden. In einigen Bundesländern sind die Sozialdemokraten nur dritt- oder viertstärkste Kraft, bundesweit erreichen sie nicht einmal die 20-Prozent-Marke. Würde nun etwa durch das Wagenknecht-Projekt weitere Unruhe in die SPD getragen, dürfte das den Schwund beschleunigen. Bewegung im Parteiensystem gibt es also auch hierzulande genug. Noch haben die etablierten Parteien die Chance, darauf zu reagieren und sich zu modernisieren. Aber die Ungeduld der Wähler nimmt zu.

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