Politik Leitartikel: Grüne Nutznießer

Laut Umfragen sind die Grünen dabei, zur neuen Volkspartei zu werden.

Doch Vorsicht: Noch profitiert die Ökopartei vor allem von Verschiebungen

im Parteiensystem, ohne selbst wirklich aktiv geworden zu sein. Die Grünen sind die Einzigen unter

den größeren Parteien, die keine

Wähler an die AfD verloren haben.

Die Grünen-Themen würden nicht als „der heiße Scheiß der Republik“ wahrgenommen. Mit diesen drastischen Worten erklärte Katrin Göring-Eckardt, damals Spitzenkandidatin der Grünen für die Bundestagswahl 2017, warum ihre Partei bei der Saarlandwahl im März abgestürzt war. Jetzt, eineinhalb Jahre später, ist die Rede davon, dass die Grünen im Begriff seien, zur Volkspartei aufzusteigen. Was nur haben die Grünen geleistet, dass sie bundesweit neuen Umfragen zufolge auf 15 Prozent Wählerstimmen kommen? Die wahrheitsgetreue Antwort ist: Nicht so viel, als dass sich daraus fast eine Verdopplung der Wähleranteile gegenüber dem Ergebnis der Bundestagswahl ableiten ließe. Die Grünen profitieren vielmehr von Entwicklungen, die ihnen Wähler zutreiben. Was dazu führt, dass die Grünen nicht mehr als Partei eines bestimmten Milieus wahrgenommen werden, sondern als breiter aufgestellt. Ökologie, das Hauptthema der Grünen, ist im wahrsten Sinne des Wortes zum „heißen Scheiß“ der Republik mutiert. Hitze und Dürre in Deutschland haben drastisch vor Augen geführt, dass der Klimawandel vielleicht doch keine „Erfindung der Chinesen“ ist, wie es ein in den USA per Twitter wütender US-Präsident behauptet. Auch der schleichende Umbau des deutschen Parteiensystems spielt eine wichtige Rolle. Die Grünen sind die Einzigen unter den größeren Parteien, die keine Wähler an die AfD verloren haben. Vielmehr hat die Ökopartei das Interesse jener Wertkonservativen geweckt, die sich durch nationalistisch gefärbte Kommentare mancher Unionspolitiker abgestoßen fühlen. Manche bisherigen SPD-Wähler haben die Grünen ebenfalls für sich entdeckt, nachdem auf wichtigen Politikfeldern die Identität ihrer eigenen Partei nicht mehr auszumachen ist. Die Grünen haben es da vergleichsweise einfach. Sie tragen in der Bundespolitik keine Verantwortung. Sie können in der Opposition eine klare Kontur behalten. Auch ist ihnen nach der Bundestagswahl personell ein Neuanfang geglückt. Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock führen erstmals zwei Realos die Partei, die lange Zeit zwischen dem linken und dem rechten Flügel zerrissen war. Die beiden neuen Führungsfiguren sind telegen und auch für Leute interessant, die vielleicht FDP gewählt haben. Habeck und Baerbock haben so gar nichts mit der Gründergeneration, den 68ern, zu tun, mit den Joschka Fischers oder Jürgen Trittins, die jahrzehntelang die Grünen geprägt haben – und denen Politik Kampf war. Kampf, um andere Prioritäten und Themen in der Politik durchzusetzen. Nun sind die Grünen nicht länger in der Gefahr, ein Generationenprojekt zu bleiben. Allerdings: Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass den Grünen prophezeit wird, sie seien auf dem Weg zur Volkspartei. Das letzte Mal war dies 2011 der Fall, als die Atommeiler in Fukushima explodierten und Winfried Kretschmann Regierungschef im Ländle wurde. Der Hype um den einstigen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zeigt zudem, wie schnell ein Hoffnungsträger wieder verschwinden kann. Dennoch spricht viel dafür, dass den Grünen mehr als alle anderen Parteien – mit Ausnahme der AfD – von den Verschiebungen in der Parteienlandschaft profitieren. Dass sie die Veränderungen auch aktiv angehen, müssen sie indes erst noch beweisen. Der erste Messpunkt ist 2020. Bis dahin soll das neue Grundsatzprogramm der Grünen stehen. Habeck und Baerbock zufolge soll es mit überholten Dogmen brechen.

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