Politik Leitartikel: Getriebene in Wien

Die Diskussion um Panzer und Soldaten am Brennerpass hat vor allem

eine Ursache: In Österreich herrscht Wahlkampf. Und die großen

Parteien SPÖ und ÖVP wollen der FPÖ rechts keinen Raum lassen.

Der Brenner ist nicht irgendeine

Grenze. Österreich und Italien

pflegten hier ihre Feindschaft.

Gestern pfiff der österreichische Bundeskanzler Christian Kern, zugleich Chef der SPÖ, seinen Heeresminister und Parteigenossen Hans Peter Doskozil zurück. „Derzeit wird kein militärisches Gerät stationiert“, auch einseitige Kontrollen werde es vorerst nicht geben. Doch die Worte Doskozils über eine Grenzsperrung am Brenner und die Bilder vom Vortag von Soldaten und Radpanzern zum möglichen Schutz der Grenze vor Flüchtlingsmassen hatten bereits eine verheerende Wirkung in Italien entfaltet. Österreichs Botschafter wurde zum Rapport bestellt. Italiens regierende Demokratische Partei forderte von der EU, Sanktionen gegen Österreich einzuleiten. Der Brenner ist ja nicht irgendeine Grenze. Diese Grenzlinie durch die Alpen hat im Ersten Weltkrieg Tirol zerrissen – und Österreich und Italien lange zu Feinden werden lassen. In Wien scheint man vergessen zu haben, wie mühsam Italien eine Autonomie für Südtirol abgerungen werden musste. Südtirol, das mittlerweile zu einer europäischen Modellregion aufgestiegen ist. Und jetzt, da die EU-Mitgliedschaft beider Nachbarstaaten die Brennergrenze nahezu obsolet gemacht hat, will Österreich Panzer und Soldaten dorthin schicken? Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher spricht aus, was sein Nordtiroler Amtskollege Günther Platter aus Rücksicht auf seinen Parteifreund und ÖVP-Kanzlerkandidaten Sebastian Kurz unterdrückt: Das militärische Muskelspiel am Brenner habe auch damit zu tun, dass in Österreich im Herbst gewählt wird. Diese Analyse ist nicht ganz richtig. Nicht „auch“ muss es heißen, sondern „vor allem“. Sachliche Gründe, warum 750 Soldaten den wichtigsten Grenzübergang nach Italien sichern sollten, gibt es nicht. Laut offiziellen Angaben haben in Österreich in den ersten fünf Monaten rund 10.000 Menschen um Asyl nachgesucht, halb so viele wie im Vorjahresvergleich. Gewiss, Österreich hat das Recht, nationale Maßnahmen zur Grenzsicherung zu ergreifen, solange die EU keine gemeinsame Flüchtlingspolitik zustande bringt. Aber doch nicht auf Kosten der europäischen Solidarität! Was man in Wien indes von Solidarität hält, zeigte Heeresminister Doskozil: Er informierte die EU-Kommission in Brüssel mit keinem Wort über eine militärische Sicherung der Brennergrenze. Er spekulierte nur darüber, Italien könne die derzeit 85.000 Flüchtlinge auf seinem Staatsgebiet „weiterwinken“. Zugleich wird in Wien verschwiegen, dass die EU ein millionenschweres Entlastungsprogramm für Italien vorbereitet, um gerade dies zu verhindern. Der populistische Wettlauf von SPÖ und ÖVP sowie der rechten FPÖ um die wirksamste Abschreckungspolitik ist seit mindestens einem Jahr im Gange. Da war erstmals von einer Schließung der Brennergrenze die Rede. Heeresminister Doskozil spielt nun für die Sozialdemokraten den starken Mann und entlastet damit SPÖ-Chef Kern, der Kanzler bleiben und den Eindruck eines über den Dingen schwebenden Staatsmannes vermitteln möchte. Getrieben werden sie vom neuen ÖVP-Vorsitzenden, Außenminister Kurz, sowie von dessen Parteikollegen Innenminister Wolfgang Sobotka. Im populistischen Krawall, den SPÖ und ÖVP veranstalten, ist FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache fast schon zu einer Randfigur geworden: Seine Chancen auf die Kanzlerschaft sinken kontinuierlich. Die Folgen dieses hemmungslosen Populismus’ wird Österreich zu spüren bekommen – aber erst nach dem Wahltag.

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