Politik Leitartikel: Die nächste Welle wartet
Afghanistan bleibt ein geschundenes Land.
Aber die meisten Landesteile sind sicher.
Dorthin nicht abzuschieben, ist eine fehlgeleitete Politik. Iran und Pakistan haben im
vergangenen Jahr rund eine Million Afghanen abgeschoben.
In Deutschland gibt es hitzige Debatten darüber, ob und wenn ja, welche der 200.000 afghanischen Asylbewerber, die 2015 und 2016 gekommen sind, abgeschoben werden dürfen. Nicht selten wird dabei von Leuten, die noch nie ein afghanisches Dorf gesehen haben, behauptet, die abgelehnten Afghanen würden in den sicheren Tod geschickt. Währenddessen schieben Afghanistans Nachbarländer Iran und Pakistan unbeirrt ab. Jeden Tag sind dies 5000 bis 8000 Afghanen, die zurück über die Grenze geschickt werden. Diese Länder tun das, weil die schiere Anzahl der Zugewanderten sie überfordert und ihre Stabilität bedroht. Die pakistanisch-afghanische Grenzstadt Peschawar ist seit vielen Jahren fast gänzlich in afghanischer Hand, und in der 22-Millionen-Metropole Karatschi leben zehn Millionen Paschtunen in unkontrollierbaren Stadtteilen, die als Hochburgen von Taliban und IS gelten. In Pakistan lassen sich deshalb mit Abschiebemaßnahmen sogar Wählerstimmen gewinnen. Iran und Pakistan haben 2016 rund eine Million Afghanen abgeschoben. Dieses Jahr werden es ebenso viele sein, befürchtet das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das jedem Rückgeführten 400 Dollar als Starthilfe mitgab. Denn noch immer leben 1,4 Millionen registrierte und eine Million unregistrierte afghanische Flüchtlinge in Pakistan, in Iran sind es eine Million registrierte und doppelt so viele unregistrierte – und alle sollen gehen. Niemand stellt sich die Frage, ob das mit der Menschenwürde der Abzuschiebenden vereinbar sei. Die Frage nach der Sicherheitslage in Afghanistan, in das die Flüchtlinge zurückgeschickt werden, stellt sich in den Nachbarländern nicht, weil Terror dort ebenfalls alltäglich ist. Zudem herrscht in Afghanistan seit dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 Krieg und damit Unsicherheit. Es gab Zeiten, in denen weit mehr Menschen starben als jetzt durch den Taliban-Terror. Es stimmt auch nicht, dass ganz Afghanistan unsicher ist. Zu wenig wird darüber berichtet, dass es auch wieder funktionierende Schulen, Universitäten, Städte und Straßen gibt oder dass Kabul wiederaufgebaut wurde. Laut UN sind derzeit immerhin 57 Prozent des Landes unter Regierungskontrolle, nur drei Millionen der 34 Millionen Einwohner leben unter Talibanherrschaft, elf Millionen in umkämpften Gebieten. Das alles sind erschreckende Zahlen, aber rechtfertigt dies einen Abschiebestopp für abgelehnte Asylbewerber? Hätten dann nicht die halbe Milliarde Menschen, die in Asien und Afrika in ähnlichen Verhältnissen leben, das gleiche Recht, von Deutschland aufgenommen zu werden? Obwohl in den vergangenen 15 Jahren mehr als 130 Milliarden Dollar im Land versenkt wurden, ist Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten und rückständigsten Länder der Welt. Da werden selbst solche Nachbarn wie Pakistan und Iran für Migranten attraktiv, ganz zu schweigen von Ländern wie Deutschland, wo es vermeintlich bei der Ankunft ein Haus, ein Auto und viel Bares gibt. Diese Mär hält sich hartnäckig, weil auch die Informationskampagnen der Bundesregierung, dass dies nicht so ist, zu wenige Menschen erreichen. Deutschland und die EU werden sich deshalb auf noch mehr afghanische Migranten einstellen müssen. Die aus Iran und Pakistan Abgeschobenen sind ein Indiz, wie aussichtslos die Lage am Hindukusch für viele ist. Im Übrigen sind Afghanistans größtes Problem nicht die Taliban, sondern Korruption und die Unfähigkeit der Regierenden.