Politik Leitartikel: Die hartnäckigen Verführer

Auch wenn die jüngsten Wahlergebnisse anderes

suggerieren: Europa und Deutschland werden

den Populismus so schnell nicht wieder los. Sich vom etablierten System zu

distanzieren, es überwinden zu

wollen – das kommt offenbar an.

Zahlen überzeugen zunächst. Sie kommen so unbestechlich daher. Emmanuel Macron hat bei der französischen Präsidentschaftswahl im zweiten Wahlgang 66 Prozent der Stimmen geholt. Im Vergleich zum Ergebnis der Rechtspopulistin Marine Le Pen sind das fast doppelt so viele. Klare Sache. Bei der Wahl in Schleswig-Holstein haben 5,9 Prozent der Wähler ihr Kreuz hinter der AfD gemacht. Schon im Saarland ist die AfD mit 6,2 Prozent Stimmenanteil auch nicht zweistellig geworden. Kein Vergleich zu den 12,6 Prozent 2016 in Rheinland-Pfalz oder gar den 24,3 Prozent in Sachsen-Anhalt. Klare Sache. Es geht abwärts mit der AfD. Klare Sache? Es geht abwärts mit der AfD? Verzieht sich das populistische Gespenst? Mitnichten. Und so klar ist die Sache übrigens gar nicht. Zahlen mögen unbestechlich daherkommen. Die aktuellen lassen aber allenfalls ein kurzes Aufatmen zu, auf jeden Fall kein entspanntes Durchschnaufen. Denn die Ergebnisse müssen differenzierter betrachtet werden. Schauen wir hin: In Frankreich haben 10,6 Millionen Wähler für Le Pen gestimmt, zwölf Millionen sind nicht zur Wahl gegangen, mehr als drei Millionen haben einen blanken Wahlzettel abgegeben, über eine Million hat den Stimmzettel anders ungültig gemacht. Das heißt: Von den 47,5 Millionen französischen Wahlberechtigten haben fast 27 Millionen entweder für Le Pen gestimmt oder mindestens nicht ausdrücklich gegen sie. Eine bemerkenswert große Anzahl für eine Partei, die – um es mit Vizekanzler Sigmar Gabriel zu sagen – im deutschen Politikspektrum zwischen AfD und NPD pendeln würde. Die Zahl erstaunt auch vor dem Hintergrund dessen, was auf dem Spiel stand: möglicherweise nicht weniger als das Ende des uns bekannten Europa. In Schleswig-Holstein ist die AfD in den zwölften Landtag eingezogen. Natürlich hat die Partei das von Alexander Gauland bezifferte zweistellige Wählerpotenzial nicht abgerufen. Gauland ist einer der beiden AfD-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl. Aber aus den Ergebnissen für das Saarland und Schleswig-Holstein das Ende der AfD herauszulesen, ist mindestens verwegen. Vielmehr bedeuten sie eine Stabilisierung der Partei. Die AfD ist in den Kieler Landtag eingezogen, obwohl der unmittelbare Protestanlass insbesondere des Jahres 2015 – der Zuzug der Flüchtlinge – nicht mehr gegeben ist. Und sie hat die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen, obwohl sich die AfD-Spitzenmänner und -frauen bis zum und auf dem Bundesparteitag gestritten haben wie die Bürstenbinder. Die AfD hat ein Bild der Zerrissenheit abgegeben. Dennoch ist sie in den Landtag eingezogen. Der Erfolg der Populisten hängt auch damit zusammen, dass sich die neuen Parteien und Bewegungen sehr bewusst außerhalb des etablierten Systems stellen, zumindest tun sie so. In Frankreich ist mit Macron einer zum Präsidenten gewählt worden, der von keiner der altbekannten Parteien getragen wird. Der Kandidat der Konservativen, François Fillon, ist im ersten Wahlgang nur auf Platz drei gelandet. Und für Benoît Hamon, den Sozialisten, haben nur 4,8 Prozent der Wahlberechtigten gestimmt. Sich vom etablierten System zu distanzieren, es schlecht zu reden und anzukündigen, es überwinden zu wollen – das kommt offenbar an. Die AfD tut das auch, wenn auch viel subtiler als der Front National. Obwohl die jüngsten Wahlergebnisse anderes suggerieren: So schnell werden Europa und Deutschland den Populismus nicht wieder los.

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