Politik Leitartikel: Aufbruchssignal, gedämpft

Macht die neue Bundesregierung jetzt alles besser? Die Antrittsrede

der Kanzlerin verbreitet keine Aufbruchsstimmung. Sie findet aber dort,

wo es darauf ankommt, erfreulich klare Worte. Von Seehofers Aussage, dass der

Islam nicht dazugehöre, hat sich die Kanzlerin klar distanziert.

Es gibt sie, diese großen Regierungserklärungen im Bundestag, die im kollektiven Gedächtnis haften (wenn die Erinnerung sie auch möglicherweise verklärt). Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ von 1969 etwa galt lange als Maßstab. In einer Zeit der Umbrüche setzte der erste sozialdemokratische Bundeskanzler ein Zeichen des Aufbruchs. Dieses Niveau hat Angela Merkels Regierungserklärung gestern im Bundestag nicht erreicht. Die CDU-Vorsitzende gehört nicht zu der Sorte Politiker, die es verstehen, mit brillanten Reden ihre Zuhörer zu faszinieren. Das hat ihrer Karriere indes nicht geschadet. Zudem vermögen funkelnde Rhetorik und ein charismatischer Redner die Zuhörer wohl in den Bann zu schlagen. Das sagt aber noch nichts aus über die Fähigkeit des Redners, eine Regierung zu führen. Merkels Stärke ist ihre Beharrlichkeit – und wenn sie jetzt ihre vierte Kanzlerschaft antritt, muss sie einiges richtig gemacht haben in den vergangenen zwölf Jahren. Willy Brandts Kraft war hingegen nach fünf Jahren aufgebraucht. Des weiteren gehören zu einer großen Debatte auch die Gegenreden. Die Rede der Kanzlerin war, wie Merkel-Reden eben sind: analytisch, die Worte sorgfältig wägend, vollständig, was die Themen angeht, aber damit eben auch ein wenig eintönig. Doch vermochten es die Redner der Opposition nicht, daraus Kapital zu schlagen. Was auch daran lag, dass Merkel mit einer ungewöhnlich großen Portion Selbstkritik nicht viel Platz ließ für Angriffe. Vielleicht sind die Zeiten der großen Rededuelle im Parlament einfach vorüber. Vielleicht muss der Aufbruch heute nicht so sehr in Reden beschworen werden, benötigt vielmehr entschlossenes und sachkundiges Handeln. Die Aufgabenliste der erneuerten Regierung der großen Koalition ist ja gestern durchaus vollständig verlesen worden. Die wichtigsten sind: Die Gesellschaft muss vor dem Auseinanderfallen bewahrt werden – was nicht nur die Integration der Zuwanderer bedeutet, sondern auch den Ausgleich zwischen Armen und Besitzenden, zwischen Gesunden und Kranken, Alten und Jungen. Die Infrastruktur muss ertüchtigt werden – was nicht nur die digitalen Netze betrifft. Europa muss wieder zu gemeinsamem Handeln befähigt werden – was mehr bedeutet, als lediglich die Interessen der Mitgliedstaaten auszugleichen. Merkels sehr deutliche Worte in Richtung Türkei und Russland wie auch ihr Plädoyer gegen den Protektionismus zeigen: Die Bundesregierung hat durchaus verstanden, dass Deutschland und Europa in der Welt selbstbewusst auftreten müssen. Die Bundeskanzlerin hat ihre Rede mit einem Selbstzitat beendet. Man mag das als Indiz nehmen, dass Merkel ihre nach beinahe einem halben Jahr Regierungsbildung angetretene vierte Amtszeit tatsächlich als ihre letzte betrachtet. Und dass sie weiß, dass die abermalige große Koalition nicht annähernd so stark ist wie die von 2005. Deswegen ergänzte sie das „Ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen“ aus ihrer ersten Regierungserklärung gestern mit einem „Und Deutschland, das sind wir alle“. Eine Feststellung, die umso wichtiger ist, als der neue Innenminister Horst Seehofer jüngst eigenmächtig eine Trennlinie gegenüber „dem Islam“ gezogen hat, der seiner Ansicht nach nicht zu Deutschland gehöre. Von dieser Aussage hat sich die Kanzlerin erfreulich klar distanziert. Dass ein Minister, kaum im Amt, auf offener Bühne einen Rüffel von der Chefin kassiert, macht diese Regierungserklärung schließlich doch noch zu etwas Besonderem.

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