Politik Kater an der Copacabana

An einem Sonntag Ende Juli. Auf dem Weg zur Copacabana blockieren fünf Schützenpanzer die Straße. Aus den Gefechtsluken ragen Gewehrläufe. Hinter den Waffen die ausdruckslosen Gesichter blutjunger Soldaten. Später an der Copacabana dröhnen Kampfhubschrauber im Tiefflug über den Strand; in der Bucht kreuzen Kriegsschiffe. Das Militär ist mit 8500 Soldaten in Rio eingerückt. Es folgte einem Hilferuf: Die Stadt drohte in Gewalt und Kriminalität zu ersticken, die Polizei ist heillos überfordert oder selbst in Verbrechen verstrickt. Die bloßen Zahlen lassen den Horror erahnen: Mehr als 2700 Menschen sind 2017 schon ermordet worden; 630 wurden von Querschlägern bei Gefechten getroffen; 91 Polizisten wurden erschossen; die Polizei wiederum tötete fast 600 Menschen. Da verblassen die 28.000 Autodiebstähle oder die alltägliche Straßenräuberei. Nun soll das Militär Herr der Lage werden. Die Armeeführung hat angekündigt, hart gegen die Banden in den Favelas vorzugehen. Es ist zu erwarten, dass wieder einmal die arme Bevölkerung leiden wird. Der Ruf nach dem Militär ist das Eingeständnis, dass die 2008 begonnene Politik der Befriedung der Favelas gescheitert ist. Auf den Straßen Familien, die ihren Hausrat verkaufen. Mütter mit Kindern, die versuchen, Plätzchen für ein paar Cent an den Mann zu bringen. Eine kleine Armee von Obdachlosen bevölkert die überdachten Stellen der Bürgersteige. Selten ist eine Olympiastadt so schnell von der Euphorie in eine tiefe Depression gestürzt. Dabei sollten die Olympischen Spiele Rio doch „lebenswerter für alle“ machen. So versprach es der damalige Bürgermeister Eduardo Paes. Heute, ein Jahr nach der großen Eröffnungsfeier, steht fest, dass Rio 2016 sich nur für wenige gelohnt hat: Baukonzerne, Sportfunktionäre, korrupte Politiker. Fairerweise muss man sagen, dass die Olympischen Spiele 2016 zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kamen. Brasilien war gerade in eine tiefe Rezession gerutscht (begleitet von einer bis heute andauernden Staatskrise), besonders der Bundesstaat Rio de Janeiro war betroffen. Rio bezieht fast seine gesamten Einnahmen aus der Erdölförderung, aber der Ölpreis ist seit Jahren im Keller. Die Spiele bürdeten dem Staat nun weitere Kosten auf – obwohl Rio seinen Polizisten, Lehrern oder auch Musikern schon lange nur noch unregelmäßig Gehälter auszahlt. So kann es durchaus passieren, dass man zu einem Opernsänger ins Uber-Taxi steigt, der ohne den Zusatzjob seine Familie nicht mehr ernähren könnte. „Das Internationale Olympische Komitee und die Politiker müssen endlich ehrlich sein“, sagt Pedro Trengrouse. „Sie müssen aufhören, Olympia als Heilsbringer zu verkaufen.“ Der 38-Jährige ist Professor für Sportmanagement und lehrt an der Universität Harvard. Er beschäftigt sich seit Jahren mit großen Sportveranstaltungen und kommt zu dem Schluss: „Olympia ist eine große Party. Der Gastgeber zahlt eine Menge Geld und räumt hinterher auf. Die Gäste vergnügen sich, und was bleibt, sind Schulden und schöne Erinnerungen. Nicht mehr. Nicht weniger.“ Zwar macht Trengrouse die Spiele nicht für die Wirtschaftskrise verantwortlich, die Rio ohnehin getroffen hätte. Aber er widerspricht auch der Behauptung, dass die Spiele die Infrastruktur der Stadt verbessert hätten: „Die Schnellbusse und die Metrolinie waren ohnehin geplant. Nun werden sie als olympisches Erbe verkauft, weil sonst einfach nichts da ist.“ Der Olympiapark an einem Samstagmorgen. Auf dem riesigen Areal im wohlhabenden Stadtteil Barra da Tijuca im Westen Rios verlieren sich ein paar Jogger und die Besucher eines Kinder-Judoturniers, das in zwei der neun Olympiahallen ausgetragen wird – die erste Nutzung seit langem. Das Schwimmstadion ist mit Holzplatten verrammelt. In der zugigen Halle haben Tausende Spinnen ihre Netze über die Tribünen gelegt. Im Becken, in dem Michael Phelps seine Goldmedaillen errang, eine Wasserlache. Eigentlich sollte das Stadion schon abgebaut und in einer Stadt, die ein öffentliches Schwimmbad benötigt, wieder aufgebaut werden. Aber bisher hat man nur die Beckenwanne nach Manaus geschafft. Zum ersten Jahrestag der Spiele wird nun die brasilianische Regierung den Olympiapark vom örtlichen Organisationskomitee übernehmen. Es ist unklar, was dann geschieht. Es fehlen Nutzer für die Arenen, und ob die geplanten Luxus-Wohnblocks am Rande des Olympiaparks jemals gebaut werden, weiß niemand. Leerstand auch im Olympiadorf. Die 3600 Wohnungen, in denen während der Spiele die Athleten wohnten, sollten längst verkauft sein. Aber es haben sich erst 250 Käufer gefunden. Einst lautete der Vorwurf an die Organisatoren, das Olympiagelände sei nur deshalb an diesem abgelegenen Standort errichtet worden, um Barra da Tijuca weiter aufzuwerten. Es sei ein Dankeschön des korrupten Bürgermeisters an die Immobilienfirmen, die ihm seine Wahlkampagnen finanzierten. Die Rechnung dürfte nicht aufgehen. In Barra da Tijuca herrscht heute ein Überangebot. Das gibt es auch im Tourismus. Vor den Olympischen Spielen wurden viele Hotels hochgezogen, mit allein in Barra da Tijuca 10.500 neuen Betten. Sie entstanden auch unter dem Eindruck der Vorhersagen, dass die Stadt nicht genügend Betten habe, um die Olympiabesucher unterzubringen. Heute zeigt sich, dass die Stadt die vielen Betten nicht braucht. Die Auslastung der Hotels im Ferienmonat Juli betrug gerade einmal 40 Prozent. Dutzende Hotels und Herbergen schließen. Auch dies ein Beispiel dafür, wie die Olympia-Organisatoren Forderungen stellen und Erwartungen schaffen, die sich selbst kurzfristig nicht erfüllen. Sebastião Dias ist tief frustriert. Als Sohn einer Müllsammlerin aufgewachsen, hat Dias eine der erfolgreichsten Badminton-Schulen Brasiliens aufgebaut. Sie heißt Miratus, liegt in einer Favela zwischen dem Flughafen und dem Olympiapark. 200 Kinder und Jugendliche aus Armenvierteln werden hier betreut, erhalten Mittagessen, Hausaufgabenhilfe und Badminton-Training. Die einzigen beiden Spieler Brasiliens bei Olympia 2016 kamen von hier. Einer war Sebastiãos Sohn Ygor, der als einer der besten Badminton-Spieler Südamerikas gilt. Sebastião und Ygor trugen das olympische Feuer durch Rio. Zwar holte die beiden Athleten von Miratus keine Medaille, aber ihre Teilnahme weckte große Hoffnungen. „Wir waren so euphorisch“, erinnert sich Sebastião Dias. „Wir dachten, wir kriegen endlich Aufmerksamkeit und Unterstützung vom Staat.“ Tatsächlich unternimmt man bei Miratus ja viel Sinnvolles gegen die Kriminalität in der Stadt, indem Jugendliche aus den Favelas neue Perspektiven bekommen – anstatt automatisch bei einer Drogengang zu landen. Doch noch nie habe sich jemand aus dem Rathaus blicken lassen, sagt Dias. Die Situation sei heute schwieriger denn je. Man könne die Spieler nicht mehr zu Turnieren schicken, weil kein Geld für den Transport da sei. Es fehlten Schuhe, Trikots, sogar Federbälle. Dann erzählt Dias, was ihn bei den Spielen am meisten schockiert hat. Nach dem Olympiaturnier habe sich ein Verbandsfunktionär alle ungebrauchten Federbälle unter den Nagel gerissen – ein Wert von 30.000 Euro, denn olympische Federbälle sind teure Handarbeit aus Gänsefedern. Mario Andrada ist von der Episode wenig beeindruckt. „Es ist die typische Korruption bei Olympia“, sagt er und schaut aus seinem Büro im 32. Stock eines Hochhauses. Andrada war der Pressesprecher der Spiele. Immer wenn etwas schiefging, musste er sich den Medien stellen. Und es ging einiges schief: Die Quartiere der Athleten waren nicht rechtzeitig fertig; im Olympiapark stürzte eine Kamera ab; die Guanabara-Bucht, wo die Segler starteten, war nicht gereinigt. Heute ist Andrada müde, aber zufrieden. Mit der Übergabe der Olympiastätten an die brasilianische Bundesregierung ist auch sein Job getan. Er sagt rückblickend: „Alle wollten diese Spiele: der Präsident, der Bürgermeister, die große Mehrheit der Bevölkerung.“ Nun solle man sich nicht beschweren. Sebastião Dias würde ihm wohl antworten: „Die Stimmung war toll, aber ein olympisches Erbe gibt es nicht.“

Selbst der Abbau geht nicht voran: Ruine des Schwimmstadions.
Selbst der Abbau geht nicht voran: Ruine des Schwimmstadions.
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