Kalenderblatt: Kalender: Banal und böse - Adolf Eichmann wurde am 31. Mai 1962 hingerichtet

Der AngeklagteAdolf Eichmann in seinem Käfig aus Panzerglas während des Prozesses in Jerusalem.
Der AngeklagteAdolf Eichmann in seinem Käfig aus Panzerglas während des Prozesses in Jerusalem.

Adolf Eichmann, der Organisator des millionenfachen Judenmordes in Europa, wurde heute vor 58 Jahren hingerichtet. Der Prozess gegen ihn wühlte Israel auf und ermöglichte einen veränderten Blick auf Antisemitismus und Rassismus. Von Rolf Gauweiler

Es dämmerte schon an diesem 11. Mai 1960, als der Mann, der sich Ricardo Klement nannte, aus dem klapprigen Bus stieg, der ihn von der Arbeit zu seinem kleinen Heim in einem Vorort von Buenos Aires gebracht hatte. An der Straßenecke warteten zwei Autos. Zwei Männer sprangen heraus, warfen Clement zu Boden, stießen ihn in einen Wagen, knebelten und fesselten ihn und wickelten ihn in eine Decke. Das Auto raste zu einem gemieteten Apartment. Die Entführer fragten den Mann, wer er sei. Er wand sich, doch sah ein, dass Leugnen zwecklos war. „Ich bin Adolf Eichmann.“

Tage später zogen die Kidnapper ihrem Gefangenen die Uniform eines Flugzeug-Stewards an, verabreichten ihm Beruhigungsmittel und setzten ihn in ein Sonderflugzeug der israelischen Fluglinie El Al, das Außenminister Abba Eban zur 150-Jahr-Feier der Unabhängigkeit nach Argentinien gebracht hatte. Zwölf Tage später verkündete Ministerpräsident David Ben Gurion im Radio, dass israelische Sicherheitskräfte den Organisator der Ermordung von sechs Millionen Juden unter den Nazis dingfest gemacht und nach Israel gebracht hätten, wo ihm der Prozess gemacht würde.

Ein Deutscher brachte die Israelis auf die Spur

Adolf Eichmann war 1906 im rheinländischen Solingen zur Welt gekommen und im österreichischen Linz aufgewachsen. Seit 1932 Mitglied der NSDAP, leitete er das Judenreferat des Reichssicherheitshauptamts, das die Deportation von Juden in die Lager organisierte. Nach dem Krieg saß er in amerikanischer Haft, konnte aber entkommen, bevor seine Identität aufgedeckt wurde. Mithilfe von SS-Freunden gelang ihm die Flucht nach Argentinien.

Auf die Spur Eichmanns brachte die Israelis ein anständiger Deutscher: Fritz Bauer war Ende der 1950er-Jahre Oberstaatsanwalt in Frankfurt und hatte von einem Gewährsmann einen Tipp bekommen, wo der Gesuchte steckte. Bauer, als Sozialdemokrat und Jude selbst im Dritten Reich mehrfach verhaftet, traute den eigenen Behörden nicht über den Weg – alte Nazis hatten hohe Ämter in Justiz und Verwaltung inne. So informierte Bauer Elieser Shinnar, Israels Vertreter in Bonn. Der Geheimdienst Mossad erledigte den Job zuverlässig.

Die Mauer des Schweigens durchbrochen

Israel war wie betäubt von der Nachricht. Hunderttausende, die dem Holocaust knapp entronnen waren, lebten tief traumatisiert hinter einer Mauer des Schweigens und konnten über das unermessliche Leid, das ihnen zugefügt worden war, mit keinem reden. Der Prozess zwang sie, sich ihren Erinnerungen zu stellen.

Die Anklage vertrat der damals 45-jährige Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, der als zwölfjähriger Junge vor dem Krieg mit seinem Vater aus Polen eingewandert war. Bewusst entwarf Hausner eine Strategie, die sich von den Nürnberger Prozessen unterschied. In Nürnberg stützten sich die Urteile gegen die Spitzen des Dritten Reiches auf Dokumente, also auf schriftliche Beweise für die Nazi-Verbrechen. Hausner wollte aber die menschlichen Abgründe zeigen, die sich in den Lagern aufgetan hatten, um so die moralische Dimension des Massenmordes sichtbar zu machen.

Er bot 121 Zeugen auf, darunter ganz einfache Menschen, Hausfrauen, Handwerker, Rentner, die zuvor noch nie im Scheinwerferlicht gestanden hatten. Viele sagten auf Deutsch aus, der Sprache des Angeklagten, oder äußerten sich auf Jiddisch, das fast ausgestorben war. Sie erzählten von sich selbst, und das gab ihren Worten Macht. Den Zuhörern stockte oft der Atem, ihnen schossen Tränen in die Augen. Etwa bei der Geschichte von Rivka Joselewska, die erzählte, wie SS-Soldaten Bewohner ihres Dorfes erschossen, nachdem sie ihnen befohlen hatten, sich nackt auszuziehen und am Rand einer Grube aufzustellen. Die Eltern und die Schwester wurden vor den Augen Joselewskas getötet. Sie hielt ihre kleine Tochter im Arm. Der Deutsche fragte sie, ob er zuerst sie oder das Kind töten solle. Er erschoss erst das Mädchen, dann schoss er auf sie, und sie fiel in die Grube. Über ihr türmten sich die Körper, viele lebten noch. „Die Menschen zogen, bissen, kratzten, zerrten mich hinab. Trotzdem nahm ich meine restliche Kraft zusammen und drängte mich nach oben durch.“ Zur Zeit ihrer Aussage war Joselewska wieder verheiratet und hatte zwei Söhne.

Die Hände in Unschuld gewaschen

Der Prozess beherrschte den Alltag vieler Israelis. Stundenlang harrten sie vor den Türen des Gerichtssaals aus, um Einlass zu bekommen. Eine Kamera übertrug die Verhandlung in den Raum eines nahe gelegenen Klosters. Es gab noch kein Fernsehen, aber viele hörten die Liveübertragungen des Radios in Wohnungen und Büros, Cafés, Bars und Läden. Schulen sagten den Unterricht ab, damit Jugendliche die Verhandlung verfolgen konnten.

Derweil saß in seinem Käfig aus Panzerglas ein unscheinbarer Mann mit beginnender Glatze, der einen Anzug und eine Brille trug und der ständig die Papierstapel vor sich durchblätterte, während seine Mundwinkel nervös zuckten. Er stellte sich dar als ein Mann, der einem bürokratischen Missverständnis zum Opfer gefallen war. Er habe nur ausgeführt, was ihm aufgetragen wurde, und das korrekt – ein winziges Rädchen in einer riesigen Maschine, ein Werkzeug in den Händen von Leuten, die viel mächtiger gewesen seien als er. Deshalb sei die Frage, ob er Reue empfinde, sinnlos. In Jerusalem wusch wieder einmal Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld.

Ein ganz normaler Mensch?

Nach viermonatiger Beweisaufnahme verkündete das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Mosche Landau sein Urteil: Der Angeklagte wurde für Verbrechen gegen das jüdische Volk und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. In der Nacht des 31. Mai 1962 wurde Adolf Eichmann, nachdem er um eine Flasche Wein gebeten und sie erhalten hatte, im Ramla-Gefängnis erhängt. Sein Leichnam wurde verbrannt, die Asche ins Meer gestreut.

Aufgearbeitet wurde im Prozess die Ausrottung der Juden in Europa. Das Rätsel um Eichmanns Persönlichkeit blieb ungelöst. Einen Nachhall fanden die Ereignisse in einem Buch der deutsch-amerikanischen Politologin und Philosophin Hannah Arendt, die den Prozess persönlich verfolgt hatte. In ihrem „Bericht von der Banalität des Bösen“ vertrat sie die These, dass Eichmann kein Ungeheuer sei. Er unterscheide sich nicht von ungezählten anderen Menschen, sondern sei im Grunde völlig normal. Und das sei das Beunruhigende an Rassismus und Nationalsozialismus: Nicht sadistische Perversionen kennzeichnen dessen Herrschaft, sondern seine Fähigkeit, das moralische Urteilsvermögen der Menschen zu untergraben.

Die RHEINPFALZ feiert 2020 ihren 75. Geburtstag. In unserem Jubiläumskalender erinnern wir jeden Tag an ein besonderes Ereignis oder eine ungewöhnliche Geschichte aus den vergangenen 75 Jahren.

Die ZeuginRivka Joselewska rührte die Zuhörer mit ihrer Geschichte aus dem Holocaust.
Die ZeuginRivka Joselewska rührte die Zuhörer mit ihrer Geschichte aus dem Holocaust.
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