Kalender: Kalender: 1986 - Als der Rhein so rot wie Blut war

Am Ufer des RheinsDie Sandoz-Werke in Basel im Jahr 1986.
Am Ufer des RheinsDie Sandoz-Werke in Basel im Jahr 1986.

Der Chemieunfall vor 34 Jahren in der Baseler Firma Sandoz entwickelte sich zu einer der größten von Menschen gemachten Umweltkatastrophen.

Am 1. November 1986 begann sich der Oberlauf des Rheins blutrot zu färben. In den folgenden Tagen starben auf einer Länge von über 400 Kilometern, von Basel bis zur Loreley, Zehntausende Fische – vor allem Aale erwischte es. Nur wenige Monate nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl am 26. April 1986, als deren Folge weite Teile Europas radioaktiv verstrahlt worden waren, nahm nun eine der größten von Menschen verursachten Chemiekatastrophen Europas ihren Lauf.

In einer Lagerhalle des Schweizer Chemieunternehmens Sandoz (heute Novartis) in Basel war am 1. November kurz nach Mitternacht ein Großfeuer ausgebrochen. Die Halle, die 1351 Tonnen Chemikalien beherbergte (darunter viele Unkrautvernichter), brannte lichterloh. Die Baseler Feuerwehr war schnell da, doch ihr Löschwasser, das in den Rhein abfloss, war hochgiftig. Zusätzlich war das Löschwasser mit einem roten Farbstoff belastet, der aber, wie sich später herausstellte, damals das am wenigsten giftige Zeug war.

Trinkwasser in Gefahr

Das verseuchte Löschwasser führte flussabwärts zu einem Fischsterben in einer Dimension, wie es die Europäer bis dato nicht gesehen hatten. Doch es traf nicht nur Wasserlebewesen. In deutschen Kommunen und besonders in niederländischen Orten, die einen Teil ihres Trinkwassers aus Uferfiltrat des Rheins bezogen, war die Wasserversorgung längere Zeit stark beeinträchtigt. Vor Ort, im Dreiländereck von der Schweiz, Deutschland und Frankreich, mussten zudem über 1000 Menschen intensiv behandelt werden, die der giftigen Qualmwolke ausgesetzt waren.

Die deutschen Behörden konnten zunächst wenig machen – die Amtskollegen auf der Schweizer Seite stuften den Vorfall vielmehr bloß als einen weiteren jener Chemieunfälle ein, die in jener Zeit in der Chemiehochburg Basel nicht selten waren. Die offizielle Informationspolitik seitens des Verursachers und dessen Landes war – wie im Fall des Reaktorunglücks von Tschernobyl – katastrophal.

Chemiebranche am Pranger

Es wurde versucht, zu vertuschen. Später kam, nach der Analyse von Wasserproben, auch noch heraus, dass nicht nur kontaminiertes Löschwasser aus dem Sandoz-Areal geflossen war. Mindestens eine halbe Tonne des giftigen Herbizids Atrazin war vom benachbarten Chemieunternehmen Ciba-Geigy in den Rhein geleitet worden. Umweltschützer betonten indes, dass die Ursache dafür wohl kein Unfall gewesen sei – vielmehr spiegelten die Laborergebnisse nur den Normalzustand wider.

Plötzlich stand die gesamte Chemiebranche am Pranger. Und der damalige Bundesumweltminister Walter Wallmann (CDU) wurde heftig angegangen, weil er zwar die Atrazin–Einleitung von Ciba–Geigy verdamme, aber zu ähnlichen Einleitungen der Ludwigshafener BASF in den Rhein schweige. Der Vorwurf: Der deutsche Chemieriese leite Metazachlor, das genauso gefährlich wie Atrazin sei, ungestraft in den Rhein, weil dieser Stoff von der werkseigenen Kläranlage nicht zurückgehalten werden könne.

Es tummeln sich wieder Lachse

In den Jahren nach der Sandoz-Katastrophe ist staatlicherseits und von der Chemieindustrie einiges unternommen worden, damit sich solche Unfälle nicht mehr ereigneten. Oder dass im Fall der Fälle zumindest die Auswirkungen nicht die Dimension einer Katastrophe annehmen sollten. Dazu wurde die Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg intensiviert. Auf europäischer Ebene schmiedete man Störfallverordnungen; die Anrainerstaaten des Rheins verpflichteten sich zur Zusammenarbeit und zu gegenseitigen Warnungen.

Und die chemische Industrie verbesserte nicht nur ihre Kläranlagen, sondern startete auch Kampagnen zur Verbesserung ihres Images. Eine der Botschaften, die auch heute noch zu hören sind, lautet: „Der Rhein ist heute sauberer als vor 100 Jahren.“ Ja, es tummeln sich dort sogar wieder Lachse. Manche Experten sehen die Sache indes kritischer. Sie verweisen auf das Gesamtbild: Teile der Produktion problematischer Stoffe seien zumindest im Falle von Sandoz/Ciba-Geigy (heute Novartis) aus Basel abgezogen und verlagert worden. Sehr oft nach Asien.

Die RHEINPFALZ feiert 2020 ihren 75. Geburtstag. In unserem Jubiläumskalender erinnern wir jeden Tag an ein besonderes Ereignis oder eine ungewöhnliche Geschichte aus den vergangenen 75 Jahren.

 

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