Leitartikel In Europa droht rasender Stillstand

Mario Draghi hat sich Gedanken zu Reformen gemacht.
Mario Draghi hat sich Gedanken zu Reformen gemacht.

In Brüssel hat Mario Draghi ein neues Papier zur Reform der EU präsentiert. Es ist unwahrscheinlich, dass sich danach viel ändern wird. Den Bürgern ist diese Lähmung kaum mehr zu erklären.

Die Europäische Union steckt in einer Krise. Das sei ein Dauerzustand, winken manche Spötter gelangweilt ab. Damit haben sie recht – und liegen doch gewaltig daneben. Denn zu keiner Zeit war die EU derart existenziellen Herausforderungen ausgesetzt wie jetzt. Und noch nie waren die Lösungen so fern.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine droht sich der Krieg zu einem Flächenbrand auf dem ganzen Kontinent auszuweiten. Der Klimawandel und seine Folgen nehmen riesige Ausmaße an. Europas Wirtschaft wandelt am Rand einer Rezession, gleichzeitig wanken die Staaten als Spätfolge der Corona-Pandemie unter einer erdrückenden Schuldenlast. Diese schwierige Situation nutzen Populisten von links und rechts, um die Demokratie von innen heraus zu demontieren. Diese Liste ließe sich noch länger fortsetzen.

Totalausfall des Tandems

Dramatisch ist, dass kein Politiker willens und in der Lage zu sein scheint, die Führung in Europa zu übernehmen. Geradezu fatal ist der Totalausfall des Tandems Deutschland und Frankreich. Über Jahrzehnte hinweg waren die beiden größten Volkswirtschaften des Kontinents Europas Garantiemächte, wenn die EU wieder einmal auseinanderzudriften drohte. Doch die Regierungen in Paris und Berlin sind im Moment jeweils mit dem Kampf ums eigene Überleben beschäftigt.

Natürlich, Brüssel blickt nicht komplett tatenlos in den drohenden Abgrund. Allerdings beschränkt sich das Tun vor allem auf die hektische Produktion von bedrucktem Papier. Jüngstes Beispiel ist Mario Draghi: Im Auftrag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Italiens Ex-Regierungschef und Ex-EZB-Präsident über viele Monate einen 400 Seiten starken Bericht mit Empfehlungen für ein wettbewerbsfähigeres Europa ausgearbeitet. Am Montag hat Draghi sein Papier in Brüssel vorgelegt. Darin enthalten sind viele Mahnungen zur besseren Zusammenarbeit innerhalb der Union. Ein über 100 Seiten dickes Dossier mit ähnlichen Schlüssen hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen höchstselbst allerdings nur wenige Tage vorher präsentiert. Darin geht es um die Reform der Landwirtschaft. Das Fazit: Sie soll besser, schlanker und effizienter werden.

Pragmatischer Blick auf Europa

Während China, Russland und auch die USA durch konsequentes Umsetzen politischer Entscheidungen immer neue Fakten schaffen, befindet sich die EU in einer Art rasendem Stillstand. Der Brüsseler Apparat läuft zwar auf Hochtouren, er verheddert sich aber oft im Kleinklein der bürokratischen Regulierungen. Bei den Bürgern entsteht so der Eindruck, dass nichts vorangeht. Denn die meisten Menschen haben einen sehr pragmatischen Blick auf die europäische Politik. Sie wollen wissen: Was bringt die EU im alltäglichen Leben?

Während der Corona-Pandemie war dieser Nutzen klar zu erkennen, als deutlich wurde, dass das Virus nicht an Grenzen haltmacht. Auch nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine reagierte die EU überraschend schnell und geschlossen auf die neue Bedrohung. Diese Erfahrungen hätten der Wendepunkt sein können. Doch die große Chance für notwendige Reformen wurde verpasst. Der Mut für tiefe Einschnitte war dann doch nicht vorhanden. Abstrakte Reformpapiere ändern daran nichts.

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