Kalender Es waren einfach zu viele Demonstranten in Leipzig

Als „Montagsdemonstrationen“ gingen die Kundgebungen der Leipziger in die Geschichte ein.
Als »Montagsdemonstrationen« gingen die Kundgebungen der Leipziger in die Geschichte ein.

Zum Sturz des DDR-Regimes trugen zu einem wesentliche Teil die Zehntausenden Bürger bei, die immer wieder in der zweitgrößten Stadt Ostdeutschlands auf die Straße gingen.„Wir sind das Volk!“, skandierten sie. Beim entscheidenden Protest am 9. Oktober 1989 hält die Staatsmacht überraschend still.

Es hätte so leicht so ganz anders ausgehen können. An jenem 9. Oktober 1989 war die DDR-Staatsmacht gewappnet. 14.500 Bewaffnete, darunter Einheiten der Volkspolizei, der Staatssicherheit, Betriebskampfgruppen und Sicherheitsleute des SED-Apparats waren in Leipzig zusammengezogen worden. Darüber hinaus befanden sich 6500 Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) in Bereitschaft. Die Ärzte in den Krankenhäusern der Stadt, deren Vorräte an Blutkonserven aufgestockt worden waren, machten sich auf das Schlimmste gefasst. Staats- und Parteichef Erich Honecker hatte noch am Vortag den Befehl gegeben, keine weiteren Demonstrationen zuzulassen. Dennoch gingen an diesem Abend in Leipzig mindestens 70.000 Menschen auf die Straße. Es war der Anfang vom Ende der DDR.

Gegen Bevormundung durch den Staat

Sie waren aus allen Teilen der DDR angereist: Junge und Alte, Bürgerrechtler und Kirchenvertreter, Schüler und Studenten, Familien mit Kleinkindern an der Hand und Babys im Kinderwagen. Friedlich wollten sie demonstrieren: für eine Veränderung in der Gesellschaft, für einen Staat ohne Bevormundung durch die allgegenwärtige SED. Der Einheitspartei, die für sich in Anspruch nahm, die Interessen aller Bürger zu vertreten, setzten diese Bürger ihre berühmt gewordene und inzwischen vom rechten Lager missbrauchte Parole entgegen: „Wir sind das Volk!“.

Dass es gefährlich werden könnte, war allen Demonstranten bewusst. Der Arbeiteraufstand in der DDR von 1953, der Ungarnaufstand 1956, der Prager Frühling 1968 und nur vier Monate zuvor die Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking – sie alle waren von den herrschenden kommunistischen Regimen meist blutig niedergeschlagen worden.

Panzerwagen auf der Straße

Allein in der Woche vor dem 9. Oktober waren 2800 Menschen bei Demonstrationen verhaftet worden. Es war die Rede von Kriegsrecht, mit Panzerspähwagen an Kreuzungen wurde eine Drohkulisse aufgebaut. Die Listen mit den Namen derer, die im Krisenfall sofort verhaftet werden sollten, wurden erweitert.

Im Leipziger Rathaus schwor Oberbürgermeister Bernd Seidel sein Krisenteam auf den „Ernstfall“ ein. Man müsse auf jeden Fall eingreifen, meinte er. Der Staat könne sich das nicht bieten lassen, es gehe um den Machterhalt.

Angst vor einem Gesichtsverlust

Unter den Augen der Weltöffentlichkeit schreckte die DDR-Führung am 9. Oktober 1989 aber vor dem Blutvergießen, mit dem ein solches Eingreifen wohl verbunden gewesen wäre, zurück. Es waren einfach zu viele Demonstranten.

Gegen die eigenen, friedlich protestierenden Bürger gewaltsam vorzugehen, hätte zudem nach innen den totalen Gesichtsverlust bedeutet. Und dass die Loyalität der größtenteils blutjungen Bereitschaftspolizisten und Soldaten gegenüber dem SED-Regime groß genug gewesen wäre, war alles andere als sicher. Hätten sie wirklich auf ihre eigenen Landsleute geschossen?

Der Kalender

DIE RHEINPFALZ feiert 2020 ihren 75. Geburtstag. In unserem Jubiläumskalender erinnern wir jeden Tag an ein besonderes Ereignis oder eine ungewöhnliche Geschichte aus den vergangenen 75 Jahren.

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