Politik Die Geburtsstunde der kanadischen Nation
Die Mohnblume ist die Blume des Gedenkens an die Opfer der Kriege. Der kanadische Sanitätsoffizier John McCrae beschrieb die Mohnblumen, die zwischen den Kreuzen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs blühten, in seinem Gedicht „In Flanders Fields“. Es ist eines der bekanntesten Gedichte über diesen Krieg. In Kanadas Geschichte hat der Erste Weltkrieg nicht nur durch McCrae und sein Gedicht eine bis heute herausragende Bedeutung. Die Schlacht von Vimy 1917 gilt den Kanadiern als Geburtsstunde ihrer Nation.
McCrae war einer der 619.000 Kanadier, die während des „Great War“, wie der Erste Weltkrieg genannt wird, in Uniform dienten. 66.000 fielen zwischen 1914 und 1918, ein gewaltiger Blutzoll in einem Land, das damals nur acht Millionen Einwohner hatte. „In Flanders Fields the poppies blow between the crosses, row on row“: Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe. So dichtete der damals 43-jährige McCrae am 3. Mai 1915. Am Vortag war einer seiner Freunde in der zweiten Flandernschlacht bei Ypern, in der die Deutschen erstmals Chlorgas einsetzten, von einer Granate zerfetzt worden. Direkt hinter der Frontlinie begruben die Kanadier ihre Gefallenen, und auf die Reihe von Kreuzen und die dazwischen blühenden Mohnblumen blickte McCrae, als er sein Gedicht der Verzweiflung und Hoffnung schrieb. McCrae erlebte das Ende des Krieges nicht. Er starb am 28. Januar 1918 an den Folgen einer Lungenentzündung in einem Militärhospital. Aber „In Flanders Fields“ lebt weiter. Jedes Jahr wird es am Tag des Gedenkens an die Kriegsopfer – am 11. November, dem „Remembrance Day“ – am National War Memorial im Zentrum Ottawas gesungen und rezitiert. Am 21. Mai 1939 hatte König Georg VI als Staatsoberhaupt des Commonwealth-Landes Kanada das Denkmal enthüllt. „1914-1918“ steht auf seiner Frontseite. Aber die Schatten des nächsten Krieges lagen damals bereits über Europa. „1939-1945“ und „1950-1953“ wurden später für den Zweiten Weltkrieg und den Korea-Krieg an den Seiten des Denkmals angebracht. Als Großbritannien am 4. August 1914 Deutschland den Krieg erklärte, galt dies automatisch auch für Kanada. Kanada war 1867 zwar als Staat gegründet worden, hatte aber als Mitglied des Commonwealth nur eingeschränkte Souveränität. Für Kanadas Geschichte und Selbstverständnis ist der Erste Weltkrieg und besonders die Schlacht von Vimy bis heute von großer Bedeutung. Im „Battle of Vimy Ridge“, der am 9. April 1917, einem Ostermontag, begann, kämpften erstmals vier kanadische Divisionen als unabhängiges Corps. Sie stürmten den Höhenrücken von Vimy – im Norden Frankreichs nahe der Grenze zu Belgien gelegen – und eroberten die als uneinnehmbar angesehene deutsche Verteidigungslinie. In den dreitägigen Kämpfen wurden 3598 kanadische Soldaten getötet, 7000 verletzt. Ein durchschlagender Erfolg war Vimy nicht: Die kanadische Artillerie rückte in dem matschigen, von Granaten zerfetzten Gelände nicht schnell genug nach und die Deutschen konnten ihre Verteidigung wieder stabilisieren. Dennoch sehen kanadische Historiker in der Schlacht von Vimy die Geburtsstunde der kanadischen Nation. Oft zitiert wird der kanadische General Alexander Ross, der sagte: „In diesen Minuten wurde ich Zeuge der Geburt einer Nation“. Vimy gilt für viele als das Ereignis, das Kanada in die Weltgemeinschaft einführte. Der für die Veteranen zuständige Minister Julian Fantino nennt die Schlacht von Vimy heute „einen der beeindruckendsten Momente unserer Militärgeschichte“. Einige Historiker glauben allerdings, dass die militärische Bedeutung der Schlacht und die kanadischen Verdienste angesichts der starken Beteiligung britischer Verbände überhöht worden seien. Vimy sei zu einem Mythos geworden. Heute pflegt Kanada seine Militärgeschichte mehr denn je. Die Veteranen und ihre Verbände haben einen für Außenstehende schwer zu fassenden Einfluss auf kanadische Politik. Die seit 2006 amtierende konservative Regierung von Premierminister Stephen Harper zeichnet Kanadas Geschichte am liebsten als Geschichte von Kriegen. In den vergangenen beiden Jahren gab sie Millionenbeträge für die Erinnerung an den kanadisch-amerikanischen Krieg (1812 bis 1814) aus. Nun wird des Beginns des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren und des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren gedacht. Für drei Millionen Dollar (rund 2,1 Mio. Euro) wird zur Zeit das Nationale Kriegsdenkmal renoviert. Die Arbeiten sollen im Juli abgeschlossen sein, rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs. Landesweit finden Gedenkveranstaltungen statt – vor allem rund um den 11. November, wenn zur Erinnerung an die Opfer wieder die „Poppies“ getragen und „In Flanders Fields“ von John McCrae vorgetragen wird.