Chile Das neoliberale Paradies steht vor dem Aus

„Apruebo“ („ich stimme zu“) lautet die Losung der Gegner der aktuellen Verfassung.
»Apruebo« (»ich stimme zu«) lautet die Losung der Gegner der aktuellen Verfassung.

Chile entscheidet am Sonntag über ein letztes Überbleibsel der Pinochet-Diktatur, die aktuelle Verfassung. Sie gilt als ein Grund für die vielen sozialen Verwerfungen in dem Land.

Was braucht es, um in Zeiten einer Pandemie eine politische Kampagne zu machen? Für Lore López und ihre Freunde nicht viel mehr als eine Brücke, einen Sonnenuntergang, ein Megafon, Lautsprecherboxen, Musik, Fahnen, Halstücher, Transparente und große Buchstabentafeln. Es ist Dienstag, 18.30 Uhr, noch fünf Tage bis zum Verfassungsreferendum in Chile. López, Anthropologin an der Universität von Chile hat mit rund 50 jungen und nicht mehr ganz jungen Freunden Stellung auf einer Brücke in Santiago de Chiles Stadtteil Providencia bezogen.

Mit ihrer Choreographie stellt sich die Gruppe längs der Brücke auf, wedelt mit den Fahnen, hält die Halstücher in die Höhe. Von der Schnellstraße und der Radpiste unten hupen Autos im Takt, recken Radfahrer die linke Faust in die Höhe. Dann ganz schnell stecken die Aktivisten große Buchstabentafeln zu einem A-P-R-U-E-B-O zusammen. „Ich stimme zu. “

Es ist das Motto der laut Umfragen großen Mehrheit der Chilenen, die am Sonntag beim Plebiszit für die Abschaffung der 40 Jahre alten und noch aus Diktatur-Zeiten stammenden Verfassung stimmen wollen. Ein Fotograf der Gruppe hält die Aufstellungen für das Internet und die sozialen Netzwerke fest, wohin sich ganz viel der politischen Kampagne verlegt hat.

Kampagne mit Theaterstücken

„Wir mussten uns ganz neue Formen der Kampagne ausdenken“, sagt die 45-jährige López, die mit ihrer Gruppe „#QueChiledecida“ (Chile soll entscheiden) wie andere Aktivisten auch seit dem Corona-Ausbruch im Land Mitte März völlig hat umdenken müssen. „Bis dahin sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben den Menschen erzählt, um was es am 25. Oktober geht. Um ihre fundamentalen und sozialen Rechte, eine gerechte Gesellschaft, ein besseres und vor allem bezahlbares Leben.“

Nun gibt es Online-Kurse, die den Menschen erklären, was in der aktuellen Verfassung steht. Theatergruppen führen im Netz Stücke auf, welche die schweren Auseinandersetzungen und Menschenrechtsverletzungen des vergangenen Jahres aufarbeiten.

Während die „Apruebo“-Befürworter sich sehr kreativ zeigen, sind die Anhänger des „Rechazo“, der Ablehnung eines neuen Grundgesetzes, vor allem in bezahlten Spots in den Medien und samstäglichen Demonstrationen durch die Oberschicht-Viertel aktiv.

Auslöser: Preiserhöhung für die U-Bahn

Die Abstimmung Pro oder Contra der aktuellen Verfassung ist der vorläufige Schlusspunkt eines Prozesses, der am 18. Oktober 2019 praktisch aus dem Nichts begonnen hat. Damals löste eine Preiserhöhung von 800 auf 830 Pesos, umgerechnet drei Eurocent, für ein U-Bahn-Ticket einen Furor auf Regierung und das neoliberale Gesellschaftsmodell aus.

Monatelange Proteste Hunderttausender, brutale Repression der Polizei, mehr als 20 Tote waren zu beklagen. Präsident Sebastián Piñera tauschte seine Minister am Fließband aus, sagte das Gipfeltreffen des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums APEC Mitte November und die Weltklimakonferenz COP25 Anfang Dezember ab.

Dabei galt Chile zuvor lange Jahre als stabiles Erfolgsmodell in Lateinamerika. Kaum jemand sah, dass der Aufstieg auf einem Sozial- und Wirtschaftssystem basierte, das niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten, ein gewinnorientiertes Bildungs- und Gesundheitssystem sowie privatisierte Pensionskassen bedeutet und das für viele Menschen längst unerschwinglich ist. Ein Modell, das aus den Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990) stammt und das in der Verfassung von 1980 verankert wurde. Chile war Versuchslabor der Chicago-Boys um den Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman. Er verwandelte Chile in ein neoliberales Paradies, in dem die Privatwirtschaft alle Rechte, aber kaum Pflichten hat, Ressourcen nach Belieben ausbeuten darf und in dem sogar das Wasser privatisiert ist.

Wie hoch gewinnen die Verfassungsgegner?

Es geht also um viel. „Das ist ein historischer Moment“, sagt López. Erstmals hat ein Volk gegen den Widerstand der politischen Elite und trotz heftiger Repression durchgesetzt, dass das gesellschaftliche Fundament neu gelegt wird.

Die Frage ist nicht, ob der „Apruebo“ gewinnt, die Frage ist nur, wie groß der Abstand zum „Rechazo“ sein wird. „Wichtig ist, ob es 70 oder 80 Prozent Zustimmung sind, wie hoch die Wahlbeteiligung ist“, sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks „Fundación Nodo XXI“. „Je höher beide Indizes, desto größer wird der Druck auf die politische Klasse sein, auch wirklich Veränderungen umzusetzen“, unterstreicht Miranda.

Denn noch ist nicht klar, wie sich die verfassunggebende Versammlung zusammensetzt und wer an der neuen Magna Charta mitschreiben darf. Wie Miranda wissen Zehntausende Chilenen, dass nur mit der Aufrechterhaltung des Protestes auf den Straßen letztlich wirkliche Veränderungen erreicht werden können.

Lore López
Lore López
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