Politik „Dann nehme ich mir Italien“

Jessica Macoratti verdreht die Augen. „Diese Regierung ist ein großes Unglück für Italien“, sagt die junge Frau. Es ist Mittagszeit. Wer wissen will, was die Bewohner der italienischen Hauptstadt über die Führung ihres Landes denken, gesellt sich am besten an den Tresen einer der zahlreichen Café-Bars. Die Situation sei sogar noch schlimmer, als sie es befürchtet hätte, sagt die 27-Jährige. „Diese Regierung bringt alles zum Vorschein, was bisher im Verborgenen war. Rassismus ist in diesem Land plötzlich etwas völlig Normales.“ Bald 100 Tage wird Italien nun von einer Koalition aus der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und der rechten Lega regiert. Eine Konstellation, die sich vor dem Amtsantritt am 1. Juni nur wenige vorstellen konnten, hatten sich die Fünf Sterne doch in der Vergangenheit und auch im Wahlkampf damit gebrüstet, im politischen Spektrum weder links noch rechts zu stehen. Zumindest das hat sich in den vergangenen Wochen geändert. „Ich hatte gehofft, dass die Fünf-Sterne-Bewegung die Lega etwas in Zaum halten würde“, sagt Macoratti. „Aber die sind quasi noch schlimmer, weil sie ihn einfach machen lassen.“ Mit „ihn“ meint sie Innenminister und Vize-Premier Matteo Salvini. Der Lega-Chef dominiert seit Amtsantritt der neuen Regierung das Geschehen, obwohl seine Partei mit 17 Prozent der Wählerstimmen neben dem Movimento Cinque Stelle eigentlich der Juniorpartner ist. Noch. Denn die rechte Lega von Salvini hat in den Umfragen ordentlich zugelegt. Mit mehr als 30 Prozent liegt sie nun sogar vor dem Koalitionspartner. Der hat damit ein großes Problem: Eine aktuelle Erhebung zeigt, dass die Zustimmung zu Lega-Chef Salvini unter den Fünf-Sterne-Wählern innerhalb eines Jahres von zwölf auf heute 50 Prozent gewachsen ist. Der Innenminister punktet seit Wochen vor allem mit dem Thema Migration. Spricht von einer „Emergenza“, einem Ausnahmezustand, als 190 Migranten auf der „Diciotti“, einem Schiff der italienischen Küstenwache, an Land gebracht werden sollen. Dabei ist die Anzahl derjenigen, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen, in den vergangenen zwölf Monaten drastisch gesunken. Bis Ende August kamen in diesem Jahr über die Route weniger als 20.000 Menschen in Italien an. In Spanien waren es im selben Zeitraum mehr als 32.000. Doch Fakten zählen derzeit wenig. „Ich folge Salvini auf Facebook, schaue jeden Tag auf seine Seite“, sagt Roberto, der seinen Nachnamen aber lieber nicht nennen will. „Da erfahre ich ungefiltert, was er tut und was er sagt, und werde nicht manipuliert“, so der 46-jährige. Am 4. März hat er die Fünf-Sterne-Bewegung gewählt. Heute würde er seine Stimme der Lega geben. Dass Salvini tagelang Migranten auf der „Diciotti“ festgehalten hat – weshalb nun sogar die italienische Justiz gegen ihn ermittelt – findet Roberto gut. „Entweder wir ändern das System, oder wir werden keine Zukunft haben. Wenn du deine Arbeit verlierst, sitzt du auf der Straße. Gleichzeitig kommen 700.000 aus Afrika hierher, verlangen ein Hotel, mit W-Lan und Sky-Anschluss und bekommen auch noch 35 Euro am Tag. Und die Italiener bekommen nichts.“ Faktencheck: In den letzten dreieinhalb Jahren sind 475.000 Menschen über die Mittelmeerroute nach Italien gekommen. Für die 35 Euro, die pro Tag pro Flüchtling in Italien veranschlagt sind, werden deren Unterkunft, das Essen, Sprachkurse und psychologische Betreuung bezahlt. „Diese Regierung ist eine Katastrophe“, sagt Françoise Hummel. Die 79-jährige Französin lebt seit fast 50 Jahren in Rom. „Was hier gerade passiert, macht mir Angst.“ Es ist nicht nur die Politik, die ihr missfällt, sondern vor allem die Sprache, das Verhalten, das die Staatslenker der Gesellschaft vorgeben. „Gestern war ich im Supermarkt. Da waren auch zwei Roma-Männer mit zwei Kindern. Die haben eingekauft, ihre Sachen bezahlt, wie jeder andere. Eine Frau hat den Kassierer angeschrien: ,Warum lassen Sie diese Leute hier rein? Die stehlen doch nur! Raus mit euch, raus!’ “ Jessica Macoratti glaubt nicht, dass alle Italiener so denken wie Salvini. „Ich hoffe, dass seine Unterstützer einfach nur sehr laut und präsent sind, und dass es deshalb scheint, als stünde das ganze Land hinter ihm.“ Auch sie ärgert sich vor allem über die Wortwahl, die Vereinfachung. „Die Politik hat sich schließlich nicht geändert. Deshalb gibt es auch keine Opposition. Was sollen die schon groß dagegen sagen, dass Salvini zu Ende führt, was sie angefangen haben.“ Der damalige Innenminister Marco Minniti vom sozialdemokratischen Partito Democratico hatte 2017 bereits den Nichtregierungsorganisationen, die im Mittelmeer Migranten retten und nach Italien bringen, den Kampf angesagt, ihnen einen Verhaltenskodex aufgezwungen, gedroht, die italienischen Häfen für sie zu schließen. Der Partito Democratico, dem auch Minniti angehört und der noch bis Ende Mai das Land regierte, ist heute die größte Oppositionspartei. Doch zu hören ist tatsächlich nur wenig aus den Reihen der Sozialdemokraten. Sie sind noch immer damit beschäftigt, sich um sich selbst zu drehen, eine neue Führungsriege hat die Partei noch immer nicht gefunden. Von einer programmatischen Ausrichtung ganz zu schweigen. Dafür regt sich in Italien langsam eine außerparlamentarische Opposition. Die Bürgerbewegung „Libera“ hat in diesem Sommer zum Tragen eines roten T-Shirts aufgerufen – als Zeichen für die Solidarität mit den Migranten. Die Kultur-Zeitschrift „Rolling Stone“ betitelte ihre Juli-Ausgabe mit den Regenbogenfarben und dem Satz: „Wir stehen nicht hinter Salvini“. Francesco Totti, die Fußballlegende des AS-Rom, ließ sich mit einem Schild auf der Brust fotografieren, darauf zu lesen: #WithRefugees. Und erst vor wenigen Tagen demonstrierten 15.000 Menschen in Mailand gegen ein Treffen Salvinis mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Diese Zusammenkunft ist sinnbildlich für den Zustand der Regierung Italiens. Es handele sich um „ein Treffen auf politischer Ebene, nicht auf institutioneller oder gar Staatsebene“, ließen die Fünf-Sterne und auch der eigentliche Regierungschef, Ministerpräsident Giuseppe Conte, im Vorfeld wissen. Die Bilder aber sprechen eine andere Sprache: Salvini und Orbán auf Augenhöhe bei einer Pressekonferenz, im Hintergrund die italienische Flagge. Salvini macht, was er will – und seine Partner lassen ihn. Luigi Di Maio, der Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, steckt in einer Zwickmühle. Stellt er sich gegen Salvini, riskiert er den Bruch der Regierung. Käme es zu Neuwahlen, würden diese den Lega-Chef vermutlich tatsächlich in das Amt des Ministerpräsidenten heben. Ein Szenario, mit dem Salvini sogar offen droht. Nachdem die Nachricht über die Ermittlungen gegen ihn im Fall der „Diciotti“ publik wurden, sagte er in eine Kamera: „Ich führe euch an die Urnen, und dann nehme ich mir Italien.“

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