Interview zur Astrazeneca-Sperre „Bei manchen kam jede Hilfe zu spät“

Die Nebenwirkungen von Astrazeneca können gravierend ausfallen. Forscher sind den Gründen dafür auf der Spur, sagt der Arzt Mart
Die Nebenwirkungen von Astrazeneca können gravierend ausfallen. Forscher sind den Gründen dafür auf der Spur, sagt der Arzt Martin Terhardt.

Martin Terhardt, Berliner Arzt und Mitglied der Ständigen Impfkommission, rechtfertigt die Entscheidung, Astrazeneca für Jüngere zu sperren.

Herr Terhardt, gerade jetzt, wo aller Impfstoff gebraucht wird, werden Menschen von diesem ausgeschlossen. Ist die Stiko nicht übervorsichtig vorgegangen?
Ohne die eindeutigen Daten aus den Zulassungsbehörden, die uns vorlagen, hätten wir es nicht getan. Uns war klar, dass es große Auswirkungen auf die Impfkampagne hat, wenn wir einen Impfstoff für eine Altersgruppe sperren. Deshalb mussten wir abwägen. Wir kamen zu dem Schluss, dass uns gar keine andere Wahl bleibt, als diese Empfehlung abzugeben. Es gab diese schweren und unerwünschten Vorkommnisse bei einigen Menschen in der Altersgruppe 20 bis 60, die die Astrazeneca-Impfung bekommen hatten. Es wäre falsch gewesen, weiter abzuwarten.

Sind die Gründe für diese Nebenwirkungen bekannt?
Man ist ihnen auf der Spur. Gerinnungsforscher, unter anderem an der Uni Greifswald, beschäftigen sich damit. Der Impfstoff löst offenbar immunologische Vorgänge aus, die zu einem Mangel an Thrombozyten und zu einer Thrombose führen können, und zwar sehr schnell. Die Fälle sind gravierend, bei manchen kam jede Hilfe zu spät. Aber sie sind auf eine bestimmte Altersgruppe beschränkt.

Lässt sich aus den Daten, die Ihnen vorliegen, klar herauslesen, dass bei Menschen über 60 Jahren es weiterhin sinnvoll ist, diesen Impfstoff einzusetzen?
Das kann man sagen. Es war die Anzahl der Fälle in der jüngeren Altersgruppe, die uns zwangen, eine Entscheidung zu treffen. Dass wir eine Trennlinie beim Alter von 60 Jahren gezogen haben, ist auch eine Frage der Sicherheit. Manche Wissenschaftler meinen, ab 55 Jahren wäre Astrazeneca gefahrlos, wir wollten aber auf Nummer Sicher gehen. Die Daten sagen, dass es bei allen Menschen über 60, die Astrazeneca bekommen haben, überwiegend keine gravierenden Nebenwirkungen gibt.

Nun war – nach der Meldung von Thrombosen – Astrazeneca vor Kurzem für ein paar Tage komplett gesperrt gewesen. Hat Deutschland nicht zu früh das Mittel wieder zugelassen?
Naja, hinterher kann man das immer sagen. Wir haben damals aufgrund der Datenbewertung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) entschieden. Es wurden Daten aus verschiedenen Ländern ausgewertet, und sie sagten aus, dass der Impfstoff grundsätzlich in der Risiko-Nutzen-Abwägung im Verhältnis zur Covid-19-Erkrankung sicher ist und ein Warnhinweis auf die möglichen Komplikationen ausreichend ist. Erst danach sind weitere gravierende Fälle bekannt geworden. Die EMA sagt ja lediglich, dass ein Medikament generell in Ordnung ist und gibt keine Empfehlungen zur Anwendung auf Bevölkerungsebene, sondern lediglich Warnhinweise. Wir als Ständige Impfkommission haben die Aufgabe, eine Empfehlung abzugeben, inwieweit der Stoff in der Bevölkerung angewendet werden soll. Das heißt, wir müssen die von der EMA beschriebenen Risiken und die allgemeine Notwendigkeit bezüglich des Impfens über alle Bevölkerungsgruppen in Deutschland abwägen.

Was passiert nun mit den Menschen, die bereits eine erste Impfung mit Astrazeneca erhalten haben? Werden diese auch die zweite mit dem Mittel bekommen?
Darüber beraten wir gerade. Es werden in Großbritannien Studien angefertigt über die Frage, ob die zweite Impfung auch mit einem anderen Mittel als Astrazeneca erfolgen kann. Dazu müssen wir aber noch mehr wissen über den Mechanismus der Nebenwirkungen. Möglich ist auch, dass das Risiko bei der zweiten Impfung kleiner ist als bei der ersten. Außerdem appellieren wir an alle, den Abstand zwischen erster und zweiter Impfung auf zwölf Wochen auszudehnen. Damit wären die ersten Erst-Geimpften Ende April, Anfang Mai mit ihrer zweiten Impfung dran. Bis dahin geben wir eine Empfehlung. Es kann also sein, dass erneut Astrazeneca verimpft wird, es kann aber auch sein, dass ein anderer Impfstoff verwendet wird. Und es kann sein, dass wir zum Schluss kommen, den Abstand zwischen erster und zweiter Impfung noch einmal zu verlängern, weil das bei der Immunisierung möglicherweise gar kein Problem darstellt. Wie gesagt, das wird noch beraten.

Soll für Astrazeneca die Priorisierung aufgehoben werden? Soll also jeder, der will – unabhängig von der Impfgruppe, der er angehört – eine Impfung erhalten?
Grundsätzlich sollte die Priorisierung zum bestmöglichen Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen eingehalten werden. Problematisch ist die Empfehlung, dass Menschen, die jünger als 60 Jahre sind, eine gewünschte Impfung mit Astrazeneca im Gespräch mit dem Hausarzt klären sollen. Es hat sich gezeigt, dass in den bisherigen zum Glück seltenen Fällen der schweren Impfkomplikationen vorher mehrheitlich keinerlei Risiken bekannt waren. Kein Hausarzt hätte also von einer Astrazeneca-Impfung abraten können, weil die Risiken nicht zu identifizieren waren. Das macht die Sache so schwierig bei der individuellen Risikoabwägung. Wenn also jemand aus der jüngeren Altersgruppe bereit ist, sich mit Astrazeneca impfen zu lassen, muss er die Entscheidung selbst treffen und kann diese kaum seinem Hausarzt überlassen. Allgemein kann man sagen: Das Risiko von Astrazeneca für Jüngere ist klein, aber nicht null.

Der Berliner Arzt Martin Terhardt , Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko).
Der Berliner Arzt Martin Terhardt , Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko).
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