Taliban Afghanistan: Fragiler Frieden und zerstörte Träume

Frauen warten auf Lebensmittelrationen einer humanitären Hilfsorganisation.
Frauen warten auf Lebensmittelrationen einer humanitären Hilfsorganisation.

Bilder von chaotischen Szenen am Flughafen Kabul gingen im August 2021 um die Welt. Auch die Bundeswehr zog sich Hals über Kopf zurück aus dem Land. Nach zwei Jahrzehnten des bewaffneten Widerstands sind die Taliban nun wieder an der Macht, Kritiker müssen sich vor den neuen Herrschern verstecken.

Als die afghanische Hauptstadt Kabul vor einem Jahr in die Hände der Taliban fiel, war die junge Richterin Amina auf dem Weg in die Provinz. „Wir sahen, wie sich die Fahrzeuge der Taliban in Richtung Kabul bewegten. Meine Familie war sehr besorgt.“ Nach einem Telefonat machte die 34-Jährige mit ihrem Fahrer schließlich kehrt und fuhr zurück nach Kabul zu ihrer Familie. „Alle hatten große Angst. Keiner wusste, was passieren würde“, erinnert sich die junge Frau an den 15. August 2021.

Vielen Afghaninnen und Afghanen war die prekäre Lage seit Jahren klar. Immer wieder wurde der politischen Elite Korruption vorgeworfen, die Moral in der Armee verschlechterte sich zuletzt rasant. Wegen der schlechten Sicherheitslage griff die Regierung schon vor dem Machtwechsel zu immer extremeren Maßnahmen. „Alle Kollegen haben Waffen erhalten. Ich bekam auch eine“, erzählt Amina. „Als die Taliban in Kabul mit Hausdurchsuchungen begannen, haben wir sie nachts weggeworfen, damit sie nicht gefunden wird.“

Radikaler Bruch im Sommer 2021

Amina, die anders heißt, erlebte von 2001 bis 2021 ein Afghanistan, das sich öffnete. Zum Beispiel mit der Stärkung der Frauenrechte: Vor der US-geführten Militärinvasion und der Befreiung des Landes von den Taliban war eine Karriere einer jungen Frau im Justizwesen undenkbar. Doch Amina erlebte eben auch den radikalen Bruch im Sommer 2021, den Entwicklungsschritt zurück. „Ich kann immer noch nicht fassen, wo wir gelandet sind. Wir haben jahrelang studiert, wir haben hart gearbeitet.“ Trotz der vielen Anschläge blieb sie kämpferisch. „Ich bin jeden Morgen mit neuem Mut aufgewacht. Als Richterin habe ich viel Respekt genossen.“

Seit mehr als vier Jahrzehnten ist Afghanistan von Konflikten und Kriegen geplagt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte mit der internationalen Militärinvasion ein tiefer Einschnitt für das Land, die Taliban wurden entmachtet. 20 Jahre später entschieden sich die USA und ihre Partner zum Abzug der Soldaten – und die Taliban übernahmen wieder die Macht. Eines ihrer Versprechen war es, für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Stattdessen erlebt das Land eine humanitäre Katastrophe, fast die Hälfte der Bevölkerung ist von Hunger bedroht. Organisationen bemängeln, dass Menschenrechte missachtet und Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.

Kabul fast kampflos erobert

Aus Sicht der neuen Taliban-Regierung wurde Afghanistan vor zwölf Monaten von einer „Besatzungsmacht“ befreit. Der schnelle Vormarsch überraschte damals viele Experten, fast kampflos wurde Kabul von den Taliban erobert. „Dank Allah haben wir dieses Ziel erreicht, und im Moment genieße ich es, in einem freien Land zu sein“, erklärt Bilal Karimi, einer der hochrangigen Regierungssprecher.

„Jeder wusste, dass der Zusammenbruch kommen würde, doch der Zeitpunkt war eine Überraschung“, sagt der Experte Tamim Asey. Er beschreibt die afghanische Armee als tapfer und opferbereit – aber auch von Korruption und Inkompetenz in den höheren Rängen durchzogen. 2021 habe die Armee pro Tag bis zu 160 Mann verloren, so Asey, der unter Präsident Aschraf Ghani einige Zeit auch als Vizeverteidigungsminister arbeitete. Wenn selbst erfahrene Armeen aus dem Westen die Taliban nicht erfolgreich bekämpfen konnten, wie sollte es dann eine junge Armee wie die afghanische schaffen?

Auch regionale Mächte hätten die Machtübernahme der Taliban ermöglicht, sagt Asey. Viele Länder um Afghanistan herum wollten, dass die Nato und die USA in Afghanistan versagten – und stärkten die Taliban entsprechend. Der letzten afghanischen Regierung macht Asey schwere Vorwürfe. Die Flucht von Präsident Ghani kurz vor der Machtübernahme durch die Taliban habe das Schicksal schließlich besiegelt.

Taliban beim Thema Bildung uneinig

Die Machthaber in Afghanistan bemühen sich um internationale Anerkennung. Einmischung lehnen sie ab. Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft, die weiterführenden Schulen für Mädchen wieder zu öffnen, betrachten die Taliban als interne Debatte. Die Taliban scheinen sich selbst aber in vielen Punkten uneinig zu sein – vor allem, was das Thema Bildung angeht. Während die Schulen für viele Mädchen im Land geschlossen bleiben, schicken hochrangige Talibanführer ihre Töchter zur Ausbildung ins Ausland.

Die Hoffnung scheinen viele nicht aufgeben zu wollen. „Die jungen Menschen möchten weiter lernen – in der Hoffnung, dass sich die Situation eines Tages bessert“, sagt Amina. Die junge Frau selbst sieht die Zukunft ihres Landes aber düster.

Faeser: Wir holen alle Ortskräfte zurück

Ein Jahr nach der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban an die Macht in Afghanistan verspricht die Bundesregierung, dass alle einst für deutsche Stellen arbeitenden Ortskräfte noch ausreisen können. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) versicherte in der „Bild am Sonntag“: „Wir lassen sie nicht zurück.“ Derzeit arbeite sie mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) an einem neuen Aufnahmeprogramm mit „klaren Kriterien“. Nach früheren Angaben des Bundes handelt es sich um mehrere Tausend Menschen.

Faeser bezifferte die Gesamtzahl der bislang aufgenommenen Afghanen, die früher als Ortskräfte für deutsche Behörden oder Organisationen gearbeitet haben, und ihrer Familienangehörigen auf 15.759. Sie nannte in der vorab verbreiteten Version des Interviews keine genaue Zahl, wie viele weitere noch erwartet werden. Nach Zahlen aus der vergangenen Woche sicherte Deutschland seit Abzug der Nato-Truppen 23.614 Ortskräften und Angehörigen die Aufnahme zu. Mehr als 7800 Menschen würden also noch erwartet. Die Ministerin versicherte zudem, dass es auf absehbare Zeit keine sogenannten Rückführungen nach Afghanistan geben werde.

Von Afghanistan nach Eisenberg: Eine „Ortskraft“ erzählt

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