Politik Abrechnung mit Victor Orbán

Das Europaparlament wirft dem ungarischen Regierungschef Victor Orbán massive Verstöße gegen die europäischen Werte vor und stimmt deshalb heute über ein Rechtsstaatsverfahren gegen das Land ab.

Er kommt elf Minuten zu spät. Das mag anderen Gründen geschuldet sein. Doch möglicherweise will der Rechtspopulist Viktor Orbán den europäischen Abgeordneten damit auch zeigen, wie wenig er vom europäischen Souverän hält. Orbán nimmt dann Platz und hört sich ungerührt an, wie Abgeordnete aus dem gesamten demokratischen Spektrum sowie der Vize-Chef der EU-Kommission Frans Timmermans mit seiner Regierung ins Gericht gehen. Es wird eine regelrechte Abrechnung, die Orbán über sich ergehen lassen muss. Die Chefin des Haushaltskontrollausschusses, Inge Gräßle (CDU), trägt vor, dass nirgendwo sonst in der EU so schlecht mit EU-Geldern umgegangen werde wie in Ungarn: Es gebe massive Hinweise auf „Korruption und scheinlegale Ausschreibungen“. Die Kulturpolitikerin Petra Kammerevert (SPD) wirft Orbán vor, mit der Gängelung der Central European University einen „Privatkrieg“ gegen deren Stifter Georg Soros auf dem „Rücken von Forschung und Lehre“ auszutragen. Kommissionsvize Timmermans verweist auf die vielen Vertragsverletzungsverfahren, die die Kommission wegen fundamentaler Verstöße in Gang gesetzt hat. Die Kommission teile die Aussage des Berichts der niederländischen Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini, der eine „systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn“ festgestellt hatte. Mit der Debatte gewinnt das Vorgehen des Europaparlaments gegen Ungarn an Fahrt. Heute wird das Parlament darüber abstimmen, ob es ein sogenanntes Rechtsstaatsverfahren nach Artikel sieben der EU-Verträge gegen das Land anstoßen will. Damit würde das Parlament Geschichte schreiben, weil dies bislang noch nie vorgekommen ist. Die Kommission hatte ein derartiges Verfahren im vergangenen Jahr bereits gegen Polen eingeleitet. Die Hürden bis zum Verhängen von Sanktionen sind allerdings sehr hoch. Schon in der ersten Stufe eines derartigen Verfahrens müssen 22 von 28 Mitgliedstaaten für weitere Schritte stimmen. In einem zweiten Schritt müssen die EU-Mitglieder dann eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der Werte durch den Staat bestätigen. Hier ist Einstimmigkeit gefordert. Danach können bestimmte Rechte des Mitgliedstaats ausgesetzt werden, einschließlich der Stimme im Rat. Dafür bedarf es aber eines weiteren Votums der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit. Darunter versteht man mindestens 16 Mitgliedstaaten, die für mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen. Bis zu konkreten Sanktionen gegen Ungarn ist es also noch ein langer Weg. Dies ändert aber nichts daran, dass Debatte und Abstimmung im Parlament für Manfred Weber (CSU), den Chef der mit 218 Abgeordneten größten, christdemokratischen Fraktion im Europaparlament, zur Nagelprobe werden. Zu Webers EVP-Fraktion zählen auch elf ungarische Abgeordnete, die zu Orbáns Fidesz-Partei gehören. Bislang hat Weber stets ihre Mitgliedschaft verteidigt. Er erklärt gewöhnlich, dass die Fidesz-Leute im Europaparlament konstruktiv mitarbeiteten und dass ein Ausschluss aus der christdemokratischen Parteienfamilie eher zu ihrer Radikalisierung führe. Bislang unterhält Weber auch gute Beziehungen zu Orbán. Weber kam zuletzt jedoch zusehends unter Druck, die Fidesz-Leute auszuschließen. Der CSU-Politiker würde gern Spitzenkandidat der EVP bei der Europawahl im kommenden Jahr werden und danach zum Präsidenten der EU-Kommission aufrücken. Doch dafür bräuchte er die Stimmen aus den Fraktionen der Sozialisten, Grünen und Liberalen. Und sie forderten von Weber, bei der Abstimmung klare Kante gegen Ungarn zu zeigen. Daher richten sich alle Augen auf ihn, als er das Wort ergreift: Weber kritisiert Orbán, er geißelt die Verstöße gegen die Freiheit der Wissenschaften, die Einschüchterung von NGOs sowie das gesellschaftliche Klima, das Stimmung gegen Muslime macht. Er fordert von Orbán Zeichen, dass er stärker als bisher bereit sei, auf Europa zuzugehen und einzulenken. Am Abend nach einer Fraktionssitzung lässt Weber dann einen Sprecher verkünden, dass die Fidesz nicht ausgeschlossen werde, es gebe einen Burgfrieden. Der Pfälzer Europaabgeordnete Michael Detjen nimmt sowohl Orbán als auch Weber in die Pflicht. In Ungarn müssten umgehend die Pressefreiheit und die volle Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt werden, fordert der SPD-Politiker: „Die europäischen Grundrechte müssen wieder garantiert werden. Das werden wir jedoch nicht erreichen, wenn wir – wie Manfred Weber es vorschlägt – uns schon damit zufriedengeben, dass Orbán Kompromissbereitschaft zeigt“, mahnt Detjen ein härteres Vorgehen an: Das Rechtsstaatsverfahren sei der einzige gangbare Weg. Bei der heutigen Abstimmung im Europaparlament wird eine Zweidrittelmehrheit benötigt, um den nächsten Schritt zu machen. Mit Spannung wird vor allem erwartet, wie die EVP abstimmt. Weber sagt am Abend nach der Fraktionssitzung, die Abgeordneten könnten in dieser Sache frei abstimmen. Der Fraktionschef selbst kündigt an, für eine Strafe zu votieren. Beobachtern zufolge könnte ein Drittel der 218 EVP-Abgeordneten es ihm gleichtun. Fragt man Viktor Orbán, so ist die Sache ohnehin bereits entschieden. Er geht davon aus, dass das Parlament das Rechtsstaatsverfahren einfordern wird. Die von Weber geforderte Bereitschaft einzulenken zeigte der Ungar gestern jedenfalls nicht. Er sagte: „Sie werden jetzt nicht die Regierung, sondern ein Land und ein Volk verurteilen.“ Ungarn werde sich nicht erpressen lassen, werde weiterhin seine Grenzen schützen und seine Rechte verteidigen, notfalls auch in Brüssel und Europa.

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