Kalender 1976: Die Giftwolke von Seveso

In Schutzanzügen nehmen Spezialisten Bodenproben und untersuchen Gemüse in den umliegenden Feldern.
In Schutzanzügen nehmen Spezialisten Bodenproben und untersuchen Gemüse in den umliegenden Feldern.

Hochgiftiges Dioxin heißt im Volksmund nach dem Chemieunglück in der norditalienischen Stadt im Jahr 1976 nur noch „Seveso-Gift“. Ein weiterer Skandal war, wie die Verantwortlichen und die Behörden agierten.

Die Welt blickte im Sommer 1976 entsetzt auf die norditalienische Stadt Seveso: Am 10. Juli war es in einer Fabrik, in der unter anderem Unkrautvernichtungsmittel hergestellt wurde, zu einer Explosion gekommen. Aus einem chemischen Reaktor, den die Verantwortlichen übers Wochenende unbeaufsichtigt gelassen hatten, war eine giftige Wolke entwichen. Diese enthielt große Mengen der hochtoxischen Dioxinverbindung TCDD.

Die Dioxinwolke verseuchte mehrere Quadratkilometer eines dicht besiedelten Gebietes. Kinder erlitten Hautverätzungen. Bauern mussten ihre Felder umpflügen. Schwangere Mütter sorgten sich, auch wegen der Erfahrungen in Vietnam, es kam zu „therapeutischen“ Abtreibungen. Und dann waren da noch die Bilder von 3300 verendeten Tieren, darunter vielen Schafen, auf den Weiden. 77.000 Nutztiere mussten notgeschlachtet werden.

„Seveso“ trug maßgeblich dazu bei, dass in den 70er Jahren immer mehr Menschen Umweltsorgen plagten. Nicht zuletzt, weil immer wieder Chemieunglücke passierten. Ein Stoff rief dabei besonders Ängste hervor, weil er über verseuchte Lebensmittel in den Körper gelangen und dort Krebs hervorrufen konnte: Dioxin. Wobei „Dioxin“ eine Stoffgruppe mit zig Varianten ist, die sich in der Zusammensetzung unterscheiden – und in ihrer Gefährlichkeit. Dioxine entstehen vor allem als unerwünschtes Nebenprodukt bei einer auf Chlor basierenden Chemieindustrie.

Der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Dioxin allerdings schon während des Vietnamkrieges. Ab Ende der 60er Jahre versprühten die USA per Flugzeug „Agent Orange“, um so Bäume zu entlauben und damit feindliche Truppen sichtbar zu machen. Die Gesundheit der vietnamesischen Zivilbevölkerung litt stark; noch Jahrzehnte später wurden missgebildete Kinder geboren.

„Seveso“ entwickelte sich indes nicht nur deswegen zu einem der schlimmsten Chemieunfälle der europäischen Geschichte, weil toxische Stoffe freigesetzt wurden. Es gab auch noch die menschliche Ebene. So dauerte es Tage, bis die Verantwortlichen der Chemiefabrik Icmesa, die dem Konzern Hoffmann-La Roche gehörte, endlich wirkliche Informationen beisteuerten. Die italienischen Behörden versagten ebenfalls. Sie agierten völlig planlos. Erste Bewohner wurden erst ganze zwei Wochen nach der Explosion evakuiert.

Letztlich waren die Folgen des Unglücks aber weniger schlimm als anfangs befürchtet. Wobei es statistisch natürlich schwierig ist, Todes- und Krebsfälle, die Jahre später eintraten, eindeutig mit dem Chemieunglück in Verbindung zu bringen.

Die Aufräumarbeiten von Seveso beschäftigten in den 80er Jahren auch die Deutschen. So verlor sich, nachdem Subfirmen eingeschaltet worden waren, plötzlich die Spur der 41 Stahlfässer mit hochgiftigen Abfällen. Einer Theorie zufolge landeten sie in der damaligen DDR, auf einer Deponie in Mecklenburg-Vorpommern.

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