Musikfestival 25 Jahre „Enjoy Jazz“: Musik als Appell gegen die Erstarrung im Ich
Also wirbt man um Vertrauen in den offenen Diskurs, in den schönen Pluralismus der Künste, in die Relevanz neuer, anderer Perspektiven und, last but not least, in das verbindende Moment des Livekonzerts. „Vertrauen ist ein Ausweg aus der Erstarrung im Ich“, räsoniert Festivalleiter Rainer Kern. Und um diese Erstarrung zu lösen, wird bei der Jubiläumsedition in Sachen Kreativität geklotzt und nicht gekleckert.
Das merkt man schon der Eröffnungssause am Montag, 2.10., im neuen Karlstorbahnhof zu Heidelberg an: Ab 19.30 Uhr gehört die Bühne der deutsch-iranischen Sängerin, Pianistin und Komponistin Cymin Samawatie, die mit ihrem Sextett kunstvoll zwischen Orient und Okzident, zwischen alter und neuer Musik, zwischen melodiösen Bögen und experimenteller Avantgarde balanciert. Um 22 Uhr folgt das Quartett um den US-amerikanischen Schlagzeuger Kahil El’Zabar, der genuin afrikanische Klänge in spirituellen Jazz einfließen lässt. Danach legen bis in die frühen Morgenstunden DJs auf, während im hauseigenen Kino der afrofuturistische Science-Fiction-Musicalfilm „Neptune Frost“ gezeigt wird.
Frauen, die den Ton angeben
Was auf diese Jubiläumsmarathonnacht folgt, ist thematisch klar gegliedert: Die erste Woche gehört Künstlerinnen, die Ensembles leiten, starken Musikerinnen wie der 1982 in New York City geborenen Lakecia Benjamin, die ihr höchst expressives Spiel auf dem Altsaxophon mit Rap-Passagen und Spoken Word Performances kombiniert (Mi 4.10., 20 Uhr, Alte Feuerwache Mannheim).
Die Konzerte der zweiten Woche wurden von befreundeten Macherinnen und Machern anderer Jazzfestivals in Istanbul, London, Tel Aviv, New York, Südkorea, Mali und Uganda kuratiert. Dieses interkontinentale „Festival Takeover“ bringt Erscheinungen ins Spiel, die das „Mehr“, welches das Festival neben Jazz avisiert, deutlich hörbar machen. So geht das, was die türkische Singer-Songwriterin Dilan Balkay liefert, eher in Richtung Indiepop (So 8.10., 20 Uhr, Mannheim, Altes Kino Franklin), während Mononeon, ein Mensch in grellen Riesenbabystramplern und Pussy-Riot-Strickmasken, großartigen Soulfunk kreiert (Mi 11.10., 20 Uhr, Alte Feuerwache Mannheim).
Woche der Jazz-Legenden
In der dritten Woche, von 15. bis 21.10., wird manch vergangener Jazz-Großtat gedacht. So zum Beispiel Nils Petter Molvaers Album „Khmer“, das, 1997 produziert, Trip-Hop und elektronische Sounds mit meditativem Trompeten-Jazz fusionierte. Am So 15.10. zelebriert Molvaer diesen Meilenstein des Nu Jazz noch einmal live – ab 20 Uhr im Theater im Pfalzbau Ludwigshafen. Ein paar Tage später erweist man Ornette Coleman und damit einem Pionier des Free Jazz Referenz: Am Tribute-Konzert „The Shape of Jazz to Come“ sind neben Colemans Sohn Denardo auch Rap-Poetin Moor Mother und der junge Saxophonist Isaiah Collier beteiligt (Sa 21.10., 20 Uhr, Ludwigshafen, Feierabendhaus der BASF).
Letzterer ist anschließend auch im vierten Themenkomplex unterwegs, in dem es, ehe die 86-jährige Jazz-Legende Archie Shepp das Festival am 4.11. beschließt, um innovative Erweiterungen des Genres geht – um jazzige Zukunftsmusik. Bassist Sebastian Gramss und seine „Meteors“ zelebrieren sinnlich überwältigenden Cosmic Jazz (Di 24.10., 20 Uhr, Ludwigshafen, Das Haus). Bendik Giske erschafft auf seinem Saxophon pausenlose Klangkaskaden, die ebenso sehr an Minimal Music à la Philip Glass wie an Ambient-Techno denken lassen (Sa 28.10., 20 Uhr, Heidelberg, Karlstorbahnhof). Und Kassa Overall schlägt eine Brücke zwischen Hip-Hop und Avantgarde-Jazz, was letztlich nicht nur das E-Musik-Genre revolutioniert, sondern Rap auch zu einer frappierend intellektuellen Angelegenheit macht (Mi 1.11., 20 Uhr, Alte Feuerwache Mannheim).
Enjoy Jazz: Trust – 2.10. bis 4.11., Ludwigshafen, Mannheim, Heidelberg, versch. Stätten, Karten: reservix.de