Kusel Polizistenmordprozess: Warum die Notwehrthese eine auffällige Schwäche hat
Die Prozesssprache nicht, die Auftritte des Hauptangeklagten nicht, die Methoden der Kriminalisten nicht – und die Tat, deretwegen er geführt wird, erst recht nicht. Folglich ist der ursprüngliche Zeitplan aus den Fugen geraten. Ursprünglich sollte das Urteil am 9. September fallen. Inzwischen hat das Gericht Termine bis weit in den Oktober reserviert. Ein Prozessbeteiligter raunte, es könne bis Weihnachten gehen.
Wilderei in großem Stil eingeräumt
Das Problem: Es ist zwar plausibel, dass die Tat so ablief, wie die Staatsanwaltschaft diese darstellt: Der Profi-Wilderer und Scharfschütze Andreas S. erschoss am 31. Januar bei Kusel zwei Polizisten, weil diese ihn auf frischer Tat beim Wildern erwischten.
Der 39-Jährige hat inzwischen zugegeben, regelmäßig in großem Stil gewildert zu haben. Er rühmt sich im Prozess seiner Schießkunst, wollte bei der Bundeswehr zu den Scharfschützen.
Das große Aber
Das große Aber: Andreas S. hat zum Prozessauftakt bestritten, die 24-jährige Polizistin mit seiner abgesägten Schrotflinte erschossen zu haben. Das habe sein Kumpan Florian V. getan. Andreas S. gibt zwar zu, mit seinem Bergara-Gewehr dreimal auf den 29-jährigen Polizisten geschossen zu haben, allerdings will er in Notwehr gehandelt haben, weil der Polizist ihn mit 14 Schüssen angegriffen habe.
Seit dem Tag der Tat sitzt Andreas S. in Haft. Zunächst bestritt er, mit dem Tod der Polizisten irgendetwas zu tun zu haben. Dann schwieg er viereinhalb Monate lang – um dann zum Prozessbeginn mit einer Version aufzuwarten, mit der niemand rechnete.
Andreas S. will Polizisten nicht als solche erkannt haben
Theoretisch könnte die Tat so abgelaufen sein, wie Andreas S. das schildert. Schlüssig ist es nicht, weil viele Details, die er erzählt, extrem unwahrscheinlich sind. So will er erst nach der Schießerei gemerkt haben, dass ihn da ein Polizist und eine Polizistin hatten kontrollieren wollen. Zuvor sei er davon ausgegangen, dass es sich um den Jagdpächter und einen weiteren Mann handelte. Erst an den Leichen habe er die Uniformen wahrgenommen. Andreas S. hat seine Version zudem exklusiv.
Die zweite Tatversion lautet: Andreas S. händigte nach Aufforderung seinen Führerschein und seinen Ausweis den Beamten aus, die ihn kontrollierten. Als diese ein weiteres Dokument verlangten, tat er, als wolle er das Papier holen, nahm aber die Schrotflinte und schoss aus der Nähe auf den Kopf der Polizistin, die schwerstverletzt und ohnmächtig zu Boden sank. Dann feuerte Andreas S. mit der Schrotflinte in Richtung des Polizisten, mehr als 70 Schrotkugeln trafen dessen Gesäß. Der Polizist schoss mit seiner Pistole 14-mal in Richtung des Wilderers, traf aber nur dessen Wagen. Andreas S. wechselte die Waffe und tötete den Polizisten mit drei Schüssen in Bauch, Brust und Kopf. Danach durchsuchte er die Polizistin nach Notizen, bemerkte, dass sie noch lebte, und tötete sie dann mit einem weiteren Schuss mit Schrot.
Mit 16 Jahren allein zurück nach Deutschland
So hat es die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Version deckt sich weitgehend mit der Aussage des zweiten Angeklagten. Florian V. ist 33 Jahre alt, kam mit 16 Jahren aus Italien allein zurück nach Deutschland, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, kifft. Er half Andreas S. seit einiger Zeit beim Wildern. Die Aufgaben waren klar verteilt: Andreas S. schoss des Nachts mit verbotenem Wärmebildzielfernrohr, das 12.000 Euro teuer und aus Russland sein soll, vom Fahrersitz seines Renault Traffic. Florian V. suchte die erlegten Tiere, zog sie zum Wagen und lud sie ein.
Gut zwölf Stunden nach der Tat wurden Florian V. und Andreas S. festgenommen, nachdem die beiden Spuren an und im Fahrzeug beseitigt hatten. Noch am Abend nach der Festnahme sagte Florian V. drei Stunden lang ohne Anwalt aus und schilderte die Tat im Kern so wie die Staatsanwaltschaft. Seiner Verlobten hatte V. schon am Morgen des 31. Januar erzählt, dass Andreas S. in der Nacht zwei Polizisten erschossen habe und dass er Angst habe, von Andreas S. auch noch umgelegt zu werden.
Zwei Überlebende, zwei Aussagen
Zwei Überlebende am Tatort, zwei gegensätzliche Aussagen. Das Gericht muss nun herausfinden, wer die Wahrheit sagt. Die Kriminalisten haben Hunderte, wenn nicht Tausende Spuren zusammengetragen. Überwachungskameras haben die 23 Schüsse, die bei der Schießerei fielen, aufgezeichnet. Patronen, DNA-Spuren, Metallpartikel wurden gesichert und ausgewertet. Über 30 Zeugen haben dazu ausgesagt. Alle Spuren, Bilder, Tonaufnahmen sind zusammengetragen und in eine aufwendige 3D-Animation eingebaut worden. In dieser Animation wird der mutmaßliche Tatablauf nachgestellt. Allein: Auch mit dieser Animation kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit nachgewiesen werden, wer schoss.
Niemand hat Florian V. je schießen gesehen
Allerdings: Zumindest zwei Indizien passen nicht zur Version des Hauptangeklagten. Erstens: Kein Zeuge hat je Florian V. schießen sehen. Zweitens: Andreas S. will in Notwehr dreimal mit seiner Bergara in Richtung des Polizisten geschossen haben. Nachweislich traf der dritte Schuss den Polizisten aber von unten am Hals und trat aus dem Hinterkopf aus. Der Polizist muss also wehrlos am Boden gelegen haben, zudem bereits schwerstverletzt und deshalb unfähig, noch zu selbst zu schießen. Das spricht dagegen, dass Andreas S. aus Notwehr auf ihn schoss.
Das Gericht hört Zeugen aus dem Umfeld von Andreas S., alte Bekannte, Jagdfreunde. Die Tat von Kusel hat diese geschockt und die Freundschaft zu Andreas S. beendet. Die Zeugen wirken fünf Monate nach der Tat noch immer fix und fertig. Sie sind selbst darüber erschüttert: Sie, die Freunde von Andreas S., trauen diesem die Tat zu. Alles passt nach deren Einschätzung: Sein großes Ego, seine Angeberei, seine Schießwütigkeit, sein Profitstreben, seine Fähigkeit zu manipulieren, zu lügen, auf Knopfdruck zu weinen und mit allem immer irgendwie durchzukommen. Wie Schuppen fällt ihnen von den Augen, dass Andreas S. auch sie benutzte.
Kein Bedauern, kein Mitgefühl, keine Reue
Wenn Blicke töten könnten: Als zwei seiner einst besten Freunde lange aussagen, lässt Andreas S. sie nicht aus dem Blick, zeigt aber keine Gefühlsregung. Das tut er auch nicht, wenn er über die Tat spricht. Kein Wort des Bedauerns. Kein Mitgefühl. Reue schon gar nicht. Beim Nachstellen der Tat schreit er, springt auf und ab, rennt an den Richtertisch, nennt einen der Schüsse auf den Polizisten kühl „Kopftreffer“.
Der Vorsitzende Richter lässt ihn gewähren. Verhandlungssprache ist Saarländisch. Richter, Angeklagte, die Anwälte, die meisten Zeugen – alles Saarländer. Das erzeugt eine Stimmung, die den Hauptangeklagten redselig werden lässt. Vielleicht setzt der Richter darauf, dass Andreas S. sich so irgendwann um Kopf und Kragen reden wird. Seine Anwälte jedenfalls sind vorsichtig geworden: Einmal, als er zu genau Bescheid weiß, wo sich am Tatort welche Hecke befindet, pfeifen sie ihn von vor der Richterbank zurück an seinen Platz.
Im Wald gewaltet wie im Wilden Westen
In diesem Prozess geht es zunächst darum zu klären, wer am 31. Januar wen erschossen hat. Es geht aber auch darum herauszufinden, wie es so weit kommen konnte. Wie es Andreas S. immer wieder schaffen konnte, Behörden und Justiz auszutricksen, jahrelang ungestört zu wildern, im Wald zu walten wie im Wilden Westen. Und es geht darum herauszufinden, wie es im Jahr 2022 sein kann, dass bei den Waffenämtern so geschlampt wird, dass die Daten in der Akte des Andreas S. nicht mit denen im nationalen Waffenregister in Einklang zu bringen sind.
Der Blog zum Prozess findet sich hier: www.rheinpfalz.de/prozess-blog