Panorama Die Wut nach dem Schock

Am Abgrund: Ein grün-blauer Lastwagen ist zum Symbol des Einsturzes der Morandi-Brücke in Genua geworden. Der Fahrer hat die Kat
Am Abgrund: Ein grün-blauer Lastwagen ist zum Symbol des Einsturzes der Morandi-Brücke in Genua geworden. Der Fahrer hat die Katastrophe am Dienstag möglicherweise nur deshalb überlebt, weil er wegen des Überholmanövers eines anderen Wagens abbremsen musste.

«Genua/Rom.» Während an der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua die Bergungsarbeiten weitergehen, wird schon nach den Schuldigen für die Katastrophe gesucht. Die populistische Regierung in Rom hat dabei eine spezielle Sicht der Dinge.

An diesem Mittwoch sind die Wolken verzogen, die Sonne scheint auf die Trümmer der Unglücksstelle in Genua, wo noch immer Hunderte Helfer im Einsatz sind und nach Überlebenden und Opfern suchen. Elf Häuser wurden vorsorglich evakuiert, 440 Menschen sind wohnungslos. Dieser Tag, der 15. August, ist in Italien ein Feiertag, der Tag, an dem sich Familien und Freunde am Meer treffen, zusammen essen, feiern und den Sommer genießen. Doch in diesem Jahr herrscht Staatstrauer an Mariä Himmelfahrt. Das Unglück vom Vortag lähmt das Land. Neben dem Schock und der Trauer wird aber auch die Wut der Italiener immer lauter: Wie konnte das nur passieren? Die Vizepremiers Luigi Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung und Matteo Salvini von der Lega haben die Schuldigen schon gefunden: Da ist die Betreibergesellschaft Autostrade per l’Italia. Sie ist für 3020 Kilometer Autobahn sowie 1866 Brücken und Viadukte zuständig. Die Regierung werde die Firma zur Rechenschaft ziehen. „Der Widerruf der Konzession ist das Minimum“, schreibt Salvini auf seiner Facebook-Seite. Und noch einen weiteren Schuldigen hat Salvini ausgemacht: die Europäische Union, was diese gestern sogleich zurückwies. Sein Vorwurf: Durch die strengen Haushaltsregeln, die die EU Italien auferlegt hat, damit das Land von seinem Schuldenberg in Höhe von 2300 Milliarden Euro herunterkommt, hätten nötige Investitionen nicht getätigt werden können. Der Einsturz der Brücke zeige, wie wichtig es sei, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Dabei kann es am Geld nicht gelegen haben: Gerade in die Morandi-Brücke wurde in den vergangenen Jahren investiert, erst 2016 wurde die Brücke generalüberholt. Und auch zum Zeitpunkt der Tragödie waren Bauarbeiten im Gange. Dennoch fordern Di Maio und Salvini ein Aussetzen der EU-Regeln, um Ausgaben erhöhen und Steuern senken zu können. Doch gerade Di Maios Partei, die populistische Fünf-Sterne-Bewegung, muss sich jetzt gegen Vorwürfe wehren. Denn Kritik gab es wegen des am Dienstag eingestürzten Viadukts schon lange. Die Brücke, die im Westen Genuas unter anderem über Gleisanlagen und ein Gewerbegebiet führt, wurde in den 60er Jahren gebaut. Laut Experten war sie dem heutigen Verkehrsaufkommen mit etwa 5000 Lkw pro Tag nicht mehr gewachsen. Bereits in den 80er Jahren kam daher die Idee auf, die Morandi-Brücke durch einen Autobahnzubringer zu entlasten. Das Projekt mit dem Namen „Gronda“, in Anlehnung an das italienische Wort „grondaia“ für Regenrinne, wurde aber von Anwohnern und Umweltverbänden abgelehnt. Und auch die Fünf-Sterne-Bewegung sprach sich 2013 gegen eine Alternativlösung aus. Ein Video zeigt Fünf-Sterne-Gründer Beppe Grillo, wie er 2014 in Rom eine seiner leidenschaftlichen Reden schwingt: gegen die „Gronda“ in Genua, die nur eine Verschwendung öffentlicher Gelder durch die Regierung wäre. „Wir müssen sie mit der Armee stoppen“, ruft er der Menge zu. Und Paolo Putti, ebenfalls von den Fünf Sternen, schiebt hinterher: „Zu uns hat die Firma Autostrade gesagt, dass die Brücke weitere 100 Jahre stehen bleiben wird.“ Vier Jahre später brach sie in sich zusammen. Premierminister Giuseppe Conte verspricht den Italienern nun, die Regierung werde die Infrastruktur im Land streng kontrollieren. Medienberichten zufolge sind um die 300 Brücken und Tunnel in Italien marode. Und das Unglück von Genua ist leider kein Einzelfall. Im März 2017 stürzte eine Brücke über die Autobahn A 14 während Instandhaltungsarbeiten ein, zwei Menschen starben. Wenige Monate zuvor war Ende Oktober 2016 in Norditalien eine Schnellstraßenüberführung zwischen Mailand und Lecco in sich zusammengebrochen, nachdem ein genehmigter Schwertransporter darübergefahren war. 2017 wurde der Ponte di Agrigento wegen Abnutzung des Betons gesperrt. Die Brücke wurde ebenfalls von dem 1989 gestorbenen Ingenieur Riccardo Morandi entworfen. Der in Genua ermittelnde Staatsanwalt sagte gestern unterdessen, er schließe einen schicksalhaften Einsturz aus. Auch Experten sehen keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Unwetter, das zum Zeitpunkt des Einsturzes über der Stadt wütete, etwas mit der Tragödie zu tun haben könnte. Auch nicht ein Blitz, der kurz vor dem Einsturz in die Brücke gefahren war.

x