Japan Das Märchen von den Hundertjährigen
Als Saul Newman vor fünf Jahren seine Forschung über „Blaue Zonen“ veröffentlichte und diese als Mythos entlarvte, hörte kaum jemand hin. „Blaue Zonen“, das sind Orte wie Okinawa in Japan, Sardinien in Italien oder auch Ikaria in Griechenland, wo viele Menschen angeblich ein erstaunlich langes und gesundes Leben führen.
Dass Newmans Forschung auf taube Ohren stieß, mag daran liegen, dass diese Häufung von angeblich Hundertjährigen spannenden Stoff liefert. Netflix hat der Thematik sogar eine eigene Dokumentation gewidmet. Leben die Menschen dort gesünder? Sind sie weniger gestresst? Was ist ihr Geheimnis? Olivenöl, ein Glas Wein, vegane Ernährung? Das Geheimnis, wie Menschen die 100-Jahre-Marke knacken, ist ein Thema, das Menschen weltweit interessiert.
Newman, der heute am Institut für Bevölkerungsentwicklung der englischen Universität Oxford arbeitet, war ebenso fasziniert. Doch der australische Forscher konnte bei seinen Untersuchungen keine Geheimtipps für die Langlebigkeit der Menschen dort finden. Vielmehr kam er zu dem Schluss, dass es gar keine „Blauen Zonen“ gibt. Stattdessen fand er an vielen dieser Orte schlampig geführte Geburten- und Sterberegister vor.
Keine Geburtsurkunde
Dass seine Arbeiten nun plötzlich Gehör finden, liegt daran, dass Newman einer von zehn Gewinnern ist, die am renommierten Massachusetts Institute of Technology den sogenannten Ig-Nobelpreis erhielten. Der ist eine satirische Auszeichnung, um wissenschaftliche Leistungen zu ehren, die „Menschen zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen“. Die wissenschaftliche Leistung des Australiers ist eine ausführliche Analyse von angeblich 110-Jährigen. Die Studie ergab, dass für 80 Prozent der untersuchten Menschen keine ordentlichen Daten vorlagen und die verbleibenden 20 Prozent aus Ländern stammten, die sich nicht sinnvoll analysieren ließen. Deshalb kam der Forscher zu dem Schluss: „Blaue Zonen gibt es nicht.“
„Der älteste Mann der Welt hat drei Geburtstage“, sagte Newman über Jiroemon Kimura, einen Japaner, der bei seinem Tod 116 Jahre alt gewesen sein soll. Tatsächlich hätten viele der 110-Jährigen keine Geburtsurkunde, wie Newman in einem Interview mit dem akademischen Magazin „The Conversation“ sagte. Als Beispiel nannte er die USA, wo über 500 Menschen lebten oder gelebt haben, die angeblich so alt geworden sein sollen. Doch nur sieben hatten laut Newman tatsächlich eine Geburtsurkunde – und nur für etwa zehn Prozent gab es eine Sterbeurkunde. Trotzdem würden sich internationale Organisationen, Regierungen und Wissenschaftler weiterhin auf diese Daten verlassen, kritisierte der Forscher. Die Gefahr dieser falschen Daten bestehe jedoch darin, dass durch die Fehler auch falsche Prognosen gemacht würden – etwa bei der Planung von Krankenhäusern oder der Berechnung von Versicherungsprämien.
Reiche werden älter
Für das japanische Okinawa unterstützt eine Untersuchung der japanischen Regierung aus dem Jahr 2010 die Ergebnisse des Forschers. Diese zeigte auf, dass 82 Prozent der angeblich über 100 Jahre alten Menschen in Japan in Wirklichkeit längst tot waren, darunter der älteste Mann des Landes, dessen Leiche von seiner Tochter versteckt worden war, während sie 30 Jahre lang seine Rente einsteckte. „Das Geheimnis, 110 Jahre alt zu werden, bestand darin, seinen Tod nicht zu registrieren“, sagt Newman. Eine weitere Untersuchung der Regierung habe ergeben, dass die Gesundheit der Bevölkerung in Okinawa in den vergangenen Jahren sogar eher schlechter war als im Rest des Landes. So sollen die Leute eher weniger Gemüse gegessen haben und extrem starke Trinker gewesen sein. Das Gleiche gelte auch für andere „Blaue Zonen“, etwa in Europa.
Anstatt nach Geheimtipps für ein hohes Alter in bestimmten Regionen oder Landstrichen zu suchen, hängt Langlebigkeit nach Meinung des Forschers „höchstwahrscheinlich mit Wohlstand zusammen“. „Reiche Menschen treiben viel Sport, haben wenig Stress und ernähren sich gut“, sagt Newman.