Panorama Interview mit Weihnachtsforscher: Popkultur und Religion

Mit Geschenken beladener Weihnachtsmann rot-weiß kreuzt. Steckt darin noch eine Spur vom tiefere Sinn der Weihnacht oder geht es
Mit Geschenken beladener Weihnachtsmann rot-weiß kreuzt. Steckt darin noch eine Spur vom tiefere Sinn der Weihnacht oder geht es nur noch um einen Rausch der Sinne?

Einkaufstaschen voller Geschenke, „Last Christmas“ in Endlosschleife, und bei der Familienfeier brennt der Baum – bisweilen hat man das Gefühl, der wahre Sinn des Festes ist verschüttgegangen. Aber irgendwo lugt dann doch die Frohe Botschaft hervor, sagt der Freiburger Theologe und Weihnachtsforscher Stephan Wahle.

Herr Wahle, in einer Woche feiern die Christen die Geburt Jesu. Bis dahin sind Weihnachtsmärkte und Fußgängerzonen voll und die Kirchenbänke leer. Ist Weihnachten überhaupt noch ein christliches Fest und Ausdruck eines bewussten Glaubens?

Die Rede vom bewussten Glauben halte ich für zu hoch gegriffen. Religiosität kann sich in vielen Formen äußern. Aber Sie haben natürlich in dem recht, dass die gelebte vorweihnachtliche Praxis bei vielen Menschen relativ weit entfernt ist von dem, was die biblische Grundbotschaft von Weihnachten ausmacht, nämlich der Glaube an die Menschwerdung Gottes, verbunden mit der Freude daran und der Hoffnung auf eine bessere Welt. Eben. Wenn man die Menschen fragt, warum sie Weihnachten feiern, werden wohl die wenigsten explizit die Ankunft des Heilands erwähnen. Das vielleicht nicht, aber irgendwann werden sie gewiss auf die biblischen Zusammenhänge zu sprechen kommen. Das zeigt, dass Weihnachten immer noch für die meisten mit Spiritualität zu tun hat. Die Menschen haben das Gefühl, dass da etwas ist, was über den Alltag und auch über andere Feste hinausreicht, was viel mehr ist als das. Es mag unbewusst geschehen, aber eine Art von Gottesbegegnung ist in der festlichen weihnachtlichen Atmosphäre vielfach erlebbar, auch jenseits klassischer Orte wie Kirchen. Die sind übrigens in der Adventszeit spürbar voller. Bei allem weltlichen Brimborium: Die Empfänglichkeit des Menschen für Spirituelles ist zu dieser Zeit besonders ausgeprägt. Nur dadurch erklärt sich der ganze Zauber von Weihnachten. Spiegelt sich darin eine Sehnsucht nach Dingen, die im Alltag verlorengegangen sind, ein Verlangen nach heiler Welt, Geborgenheit und Glück? Diese Sehnsucht ist tatsächlich sehr stark. Der Weihnachtsmarkt beispielsweise ist nicht in erster Linie ein Ort, an dem man etwas kaufen will, das kann man überall. Er ist ein Sehnsuchtsort. Man geht dorthin aus der Erwartung nach Gemütlichkeit und Heimeligkeit und weiß zugleich, dass das Eigentliche erst noch kommt. Weihnachten ist wie eine Besinnung auf das, was wesentlich ist, auch in Abgrenzung gegen eine bedrohlich erscheinende Welt. Besinnung bedeutet doch auch, über sich selbst nachzudenken, über die eigene Rolle in der Gemeinschaft. Braucht man dafür Weihnachten? Ich würde sogar behaupten, gerade Weihnachten ist die Zeit zur Selbstreflexion. Da kommt alles noch mal hoch, was im zu Ende gehenden Jahr wichtig war. Das Weihnachtsfest ist für sehr viele Menschen der Anlass, das eigene Leben noch mal quasi wie in einem Brennglas wahrzunehmen und auch, sich daran zu erinnern, wie es früher war, in der eigenen Kindheit. Die Menschen erfahren an Weihnachten einen starken Wunsch nach Dankbarkeit, Stille und Besinnlichkeit. Sehnsucht nach heiler Welt, Gemütlichkeit, Besinnung – das klingt alles nicht zwangsläufig religiös. Als Theologe halte ich diesen Blick auf das Leben für nicht so weit entfernt von der biblischen Weihnachtsbotschaft. In der geht es ja ebenfalls um die Geburt eines Kindes und darum, das Leben an sich zu würdigen. Deshalb ist Gott Mensch geworden. Es geht zunächst um das Diesseits und nicht unbedingt um Religion, die allein das Jenseits im Blick hat. Und diese Eigenschaft macht Weihnachten für alle attraktiv, selbst wenn sie nicht explizit gläubig sind? Sogar Atheisten oder Humanisten schätzen Weihnachten, eben weil es existenzielle Fragen berührt, und weil darin auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem Alltagsleben zum Ausdruck kommt – nämlich die Frage, ob es bei allem Tun allein um einen selbst geht oder ob es da nicht doch noch mehr geben muss. Das ist durchaus eine religiöse Betrachtungsweise, wenn auch eine unbewusste. Ein Schriftsteller sagte einmal, den Theologen sei es nicht gelungen, aus Weihnachten ein Fest der Kirche und des Dogmas zu machen. Und das ist gut so, weil sonst der Gesellschaft auch unwahrscheinlich viel genommen worden wäre. Die Kirche hat keine Deutungshoheit mehr über Weihnachten, trotz des kirchlichen Ursprungs des Festes? Nicht mehr. Jedes Fest hat mehrere Deutungsebenen, jeder verbindet damit eigene Erwartungen und Vorstellungen. Die müssen sich nicht decken mit denen von Religion oder Kirche. Das kann für Theologen und Kirchenleute ein Ärgernis sein. Doch obwohl die religiöse Komponente verblasst und die Kirche das kritisiert, ist Weihnachten keineswegs nur eine Hülle für zunehmenden Konsum und Kommerz. Es ist auch ein Stück spirituelles Gemeinschaftserlebnis. Weihnachten als verbindende Klammer einer Gesellschaft, die sich weiter säkularisiert und ausdifferenziert? Das lässt sich so sehen. Das moderne Weihnachtsfest entstand, als sich die bürgerliche Gesellschaft quasi ihr eigenes Fest gegeben hat, mit der Familie im Mittelpunkt, mit der Entdeckung der Kindheit, sozusagen mit dem Wohnzimmer als Kathedrale. Weihnachten wird weltweit gefeiert, auch in anderen Kulturkreisen. Es gibt Weihnachtsbäume in Dubai und Weihnachtsbeleuchtung in Japan. Ist Weihnachten mittlerweile Bestandteil der globalen Popkultur? Wenn man Populärkultur als etwas versteht, das von breiten Bevölkerungsschichten getragen wird, dann ist Weihnachten heutzutage sicherlich Popkultur. Weihnachten ist auch deswegen ein Exportschlager, weil weltweit lokale Bräuche des Schenkens darin aufgegangen sind. Doch in Gesellschaften, in denen Weihnachten nicht religiös verankert ist, erscheint es lediglich in seiner ästhetischen Gestalt, als Hülle. Bei uns ist es zum Glück noch lange nicht so weit. Wird das Fest nicht doch irgendwann an der Überfrachtung durch Konsum und Kommerz ersticken? Das glaube ich nicht. Für die Menschen sind Geschenke letztlich nicht das Entscheidende, sondern das Gefühl der Festlichkeit, das man mit anderen teilt. Dieses Immer-Mehr wird irgendwann aufhören, es gibt ja bereits eine Abkehr davon. Und vielleicht gelingt es den Kirchen dadurch auch wieder, ein Stück der biblischen Weihnachtsbotschaft in die heutige Zeit zu tragen. Damit wäre schon viel erreicht.

Stephan Wahle ist Professor für Katholische Theologie an der Uni Freiburg. Stephan Wahle: „Die stillste Nacht. Das Fest der Gebu
Stephan Wahle ist Professor für Katholische Theologie an der Uni Freiburg. Stephan Wahle: »Die stillste Nacht. Das Fest der Geburt Jesu von den Anfängen bis heute.« Herder, 224 Seiten; 25 Euro.
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