Politik Wie Russlanddeutsche in der Bundesrepublik leben

So wie hier im baden-württembergischen Villingen-Schwennigen demonstrierten vor eineinhalb Jahren Hunderte von Russlanddeutschen
So wie hier im baden-württembergischen Villingen-Schwennigen demonstrierten vor eineinhalb Jahren Hunderte von Russlanddeutschen gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland. Auslöser war eine angebliche Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens aus Berlin-Marzahn durch Flüchtlinge – die es nie gegeben hatte.

Angekommen!? Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen sie zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik. Ein Vierteljahrhundert später sind die Russlanddeutschen in der Regel gut integriert. Sie sind weder alle rechtsextrem noch Putins fünfte Kolonne. Allerdings zeigt der „Fall Lisa“, dass es immer noch kulturelle Unterschiede und bisweilen auch Verständnisprobleme gibt zwischen Alteingesessenen und den aus Osteuropa Zugewanderten.

Russlanddeutsche Jugendliche, die sich mit türkischen prügelten, Gettoisierung, Arbeitslosigkeit und Drogenprobleme: Der Zuzug von Hunderttausenden Spätaussiedlern zu Beginn der 90er Jahre verlief nicht immer reibungslos. Da gab es Proteste von Einheimischen, die Angst davor hatten, dass die „Russen“ ihr Viertel übernehmen – so geschehen beispielsweise in Germersheim. Da wurden Spätaussiedler in leerstehende US-Kasernen einquartiert, weit weg von Einkaufsmöglichkeiten, öffentlichem Leben und den übrigen Deutschen – so geschehen auch in der Westpfalz. Und die Spätaussiedler selbst waren oftmals geschockt darüber, dass das Deutschland, in dem sie endlich angekommen waren, so gar nicht dem Land ihrer Träume entsprach. Ein Vierteljahrhundert später sind die „Russen“, wie sie häufig genannt wurden, zumindest auf den ersten Blick in der alteingesessenen Bevölkerung aufgegangen. Nur den Älteren hört man es zuweilen noch an, wo sie herkommen. Da wird das „R“ heftig gerollt, das Vokabular ist manchmal etwas altertümlich. Ansonsten, so schien es lange Zeit, sind die Spätaussiedler in Deutschland angekommen. Umso schockierter regierten Politik und Öffentlichkeit, als im Januar 2016 Gerüchte über eine nie stattgefundene Vergewaltigung einer 13-jährigen Russlanddeutschen durch Flüchtlinge die Runde machten. In vielen deutschen Städten gingen danach, angeheizt durch gezielte Falschmeldungen auf russischen Fernsehkanälen, Spätaussiedler auf die Straße. Gleichzeitig machten sich Parteien am rechten Rand diese Empörung zunutze, um gegen die deutsche Flüchtlingspolitik zu agitieren. In der Folge sahen sich die Russlanddeutschen vielfach dem pauschalen Vorwurf ausgesetzt, sie seien rechtsextrem oder verlängerter Arm des russischen Präsidenten Putin oder auch beides zugleich. Der „Fall Lisa“ habe bei ihren Landsleuten einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Sie hätten das Gefühl, sowohl von den Rechten als auch von russischer Propaganda instrumentalisiert worden zu sein, erzählt Albina Nazarenus-Vetter. Die 42-jährige CDU-Stadträtin aus Frankfurt bescheinigt den meisten Russlanddeutschen eher mäßiges politisches Interesse. „Wir waren es seit jeher gewohnt, den Kopf einzuziehen und ja nicht aufzufallen“, erklärt sie. „Politisches Engagement war nicht ratsam.“ Der „Fall Lisa“ habe bei vielen bewirkt, dass sie nun noch nicht einmal mehr wählen wollten. Da sei viel Überzeugungsarbeit nötig, erklärt die Kommunalpolitikerin, die im September für die Christdemokraten in den Bundestag einziehen will. Ihrer Erfahrung nach gibt es in der Landes- und Bundespolitik so gut wie keine Vertreter der Spätaussiedler. Selbst auf kommunaler Ebene seien sie rar. Bestätigt wird dieser Befund durch eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013 veröffentlichte Studie über „(Spät-) Aussiedler in Deutschland“. Politisches Interesse und „entsprechende Aktivitäten“ fielen bei Spätaussiedlern und Aussiedlern „eher gering“ aus, stellen die Autoren des Forschungsberichts fest. Das zivilgesellschaftliche Engagement beschränke sich in der Regel auf den Nahbereich, vor allem auf landsmannschaftliche Organisationen und religiöse Gemeinden, häufig evangelische Freikirchen. Man bleibe gerne unter sich. Auch heute noch würden Partner überwiegend innerhalb der eigenen Gruppe ausgewählt, die Familie nehme eine zentrale Rolle ein. Erwerbs- und Arbeitslosenquote, so die Studie, seien relativ gering, der Anteil an Abiturienten und Akademikern allerdings unterdurchschnittlich. Und: Aussiedler und Spätaussiedler schätzten ihre Sprachkenntnisse verhältnismäßig hoch ein, was sich im Alltag allerdings nicht immer bewahrheite. Denn viele Russlanddeutsche, die bei der Zuwanderung in den 90er Jahren das größte Kontingent stellten, konnten kein Deutsch. Das ist kein Wunder. Unter Stalin durften sie die Sprache nicht mehr sprechen, noch nicht einmal in der Familie. Und auch später signalisierte der Gebrauch des Deutschen, dass man kein guter „Sowjetmensch“, schlimmstenfalls ein „Faschist“ war, erzählt Vera Schreitel, die in Kasachstan geboren wurde und heute in Pirmasens lebt. Ihr Vater starb in einem sowjetischen Gulag. Ihm wurde damals Spionage vorgeworfen. Sein einziges Verbrechen war jedoch, so vermutet die Tochter, Deutscher zu sein. Nicht mehr „Faschistin“ sein, sondern Deutsche unter Deutschen, die Muttersprache pflegen und sich dafür nicht schämen müssen, darauf hoffte Vera Schreitel. „Und ich hatte Glück“, sagt sie heute. „Ich kam mit offenem Herzen und die Menschen hier begegneten mir mit offenen Herzen.“ So gut lief es aber nicht überall. Endlich im Land ihrer Träume angekommen, mussten viele feststellen, dass sie von den Einheimischen genauso als Migranten betrachtet wurden wie beispielsweise türkische Zuwanderer. Die Deutschkenntnisse waren vielfach zu schlecht, um schnell in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Viele mussten sich mit geringer qualifizierten Jobs zufrieden geben. Abschlüsse wurden nicht anerkannt. „Das alles bewirkt heute, dass viele Russlanddeutsche im Alter nur die Mindestrente bekommen, obwohl sie im Prinzip ein Leben lang gearbeitet haben“, sagt CDU-Politikerin Nazarenus-Vetter. Das sei bitter. Zudem hat die alte Heimat, der sie sich so verbunden fühlten, sie beileibe nicht mit offenen Armen aufgenommen. Die Spätaussiedler wurden in Sammellagern untergebracht, ihr Deutschsein auch behördlicherseits vielfach angezweifelt, der Wohnort zugewiesen und der Zuzug schließlich gedeckelt. Viele Russlanddeutsche und andere Spätaussiedler verstünden daher nicht, warum es in der aktuellen Flüchtlingsdebatte Einwände beispielsweise gegen die Wohnort-Zuweisung oder gegen Obergrenzen gebe, sagt Viktor Krieger, Osteuropa-Spezialist und Historiker an der Universität Heidelberg. Gerade weil der Familiennachzug bei Spätaussiedlern sich derzeit sehr schwierig gestalte, seien viele verbittert. „Da geht begrifflich auch alles durcheinander: Flüchtlinge, Fachkräftezuzug, Spätaussiedlung...“, stellt der Lehrbeauftragte fest, der selbst 1991 als Spätaussiedler aus Russland nach Deutschland kam. Dennoch, da sind sich Nazarenus-Vetter und Krieger völlig einig, haben sich die Aussiedler und Spätaussiedler in der Regel schnell und mustergültig integriert. Natürlich gebe es auch Ausnahmen, sagt die Berliner Kulturwissenschaftlerin Ludmilla Belkin, die aus der heutigen Ostukraine stammt. Sie kenne Einzelne, die noch nach 20 Jahren Sozialhilfe brauchten. Aber trotz der Tatsache, dass es vor 25 Jahren so gut wie keine staatliche Beratung der Neubürger gab, hätten sich ihre Landsleute in der Regel schnell zurechtgefunden. Diejenigen, die schon länger da waren, halfen den Neuankömmlingen nach Kräften. Da sei auch aktuell noch so. Dass bei vielen Spätaussiedlern russische Sender das Meinungsbild prägen, hat offenbar verschiedene Ursachen. Gerade in Familien, in denen ein Partner Russe ist, sei das eben die Sprache, mit der man sich verständige, erzählt die Stadträtin Nazarenus-Vetter. Zudem böten diese Sender ein wenig Nostalgie, mit all den Filmen aus der Jugendzeit. „Das machen die geschickt“, sagt die CDU-Politikerin. Hinzu kommt laut Ludmilla Belkin, dass sich gerade Spätaussiedler in deutschen Medien nicht wiederfänden. Ihre alte Heimat komme entweder gar nicht vor, oder sie werde ihrer Meinung nach verzerrt dargestellt. Und die neue Heimat, die habe eben auch enttäuscht, erklärt Historiker Krieger. Gerade die Russlanddeutschen, die unter Stalin aus ihren Siedlungsgebieten an der Wolga vertrieben worden waren, hatten das Gefühl, sie zahlten einen Großteil der Zeche für Hitlers Krieg. Mit dem sie ja am wenigsten zu tun hatten. Aber sie waren Deutsche, erduldeten die Repressionen. Und dann kamen sie endlich nach Deutschland und dort wurde ihre Volkszugehörigkeit, die „Schicksalsgemeinschaft der Deutschen“, auf einmal ignoriert. Sie wurden als Einwanderer angesehen, wie Türken, Spanier und Italiener. Die AfD hat offenbar diesen Nerv getroffen. Heimat und Deutschsein werden hier propagiert, haben keine negative Konnotation. Ordnung und Sicherheit werden lautstark gefordert. In Erfurt zum Beispiel begrüßten kürzlich Redner die Spätaussiedler beispielsweise auf Russisch, die Brandenburger Parteifreunde ließen ihr Wahlprogramm sogar ins Russische übersetzen. Andere Parteien kümmern sich Kriegers Ansicht nach viel zu wenig um Aussiedler und Spätaussiedler. In Baden-Württemberg stellten sie zum Beispiel fünf Prozent der Wahlberechtigten. „Und die CDU hat es all die Jahre nicht geschafft, aus deren Reihen einen Landtagsabgeordneten zu nominieren“, stellt Krieger resigniert fest. „Bei der AfD hat es sofort geklappt...“ Die Serie Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wie leben Zuwanderer und Flüchtlinge hier; wie gelingt es, sie zu integrieren? Dieser Frage geht „Angekommen!?“ nach.

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