Politik Leitartikel: Deutschlands Schwächen

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Das Grundgesetz ist eine der besten Verfassungen der Welt. Es bewahrt aber den Staat und seine Gesellschaft nicht vor Fehlentwicklungen. Der Einfluss der Parteien ist zu groß, die Parlamente sind zu schwach.

Die Bundesrepublik ist einer der erfolgreichsten Staaten. Es sucht seinesgleichen, wie sich Westdeutschland aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges in einen wohlhabenden Staat, eine Wirtschaftsmacht verwandelt hat. Es ist ein Glück, wie es gelungen ist, aus dem wegen der mörderischen Verbrechen der Nazi-Diktatur geächteten Deutschland einen weltweit angesehenen Staat zu machen. Es ist einzigartig, wie die soziale Marktwirtschaft und so viel politische Stabilität etabliert wurden und wie später die Bürger der DDR die Wiedervereinigung der Nation erzwangen. Das alles wäre ohne äußere Einflüsse niemals möglich gewesen: die Unterstützung durch die USA, die Versöhnungsbereitschaft Frankreichs oder die Europäische Einigung. Im Innern gebührt unserem Grundgesetz, das vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, in Kraft getreten ist, ein ganz großer Anteil an dieser Erfolgsgeschichte. Deshalb sind die meisten Deutschen zu Verfassungspatrioten geworden: stolz auf ihr Grundgesetz. Den Müttern und Vätern dieses Grundgesetzes ist im wahrsten Sinne des Wortes ein genialer Text gelungen: klar, knapp, präzise, weitsichtig, haltbar.

Allgemeinwohl und individuelle Rechte im Gleichgewicht

Die Grundrechte (Artikel 1 bis 19) sind die Gebote für eine friedliche, freie, offene Gesellschaft, in der Allgemeinwohl und individuelle Rechte im Gleichgewicht stehen. Die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Gesetzesausführung und Rechtsprechung sowie zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ist kompliziert, aber sie funktioniert. Dass die parlamentarische Demokratie aus einer Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht hervorgeht, macht sie stabil. Zu dieser Stabilität trägt bei, dass die repräsentative Demokratie auch starke Elemente der Kanzler- und der Parteiendemokratie hat und dazu wenige, aber wirksame Funktionen der Präsidialdemokratie. Doch der außerordentliche Erfolg des Grundgesetzes darf nicht blind machen für dessen Gefährdungen: Die Macht der Parteien ist zu groß geworden. Oft kontrollieren nicht mehr die Parlamente als Ganzes die Regierungen, sondern nur die jeweiligen Oppositionsparteien. Die Parteien, welche die Regierungen stellen, verteidigen diese nur noch. Das macht Kanzler, Ministerpräsidenten oder Bürgermeister mächtiger als sie es sein sollten und verführt zu Selbstherrlichkeit. Der Bundestag hat keine Hemmungen, über die Höhe der Diäten und der Fraktionszuschüsse zu entscheiden. Aber er versagt vor der Aufgabe, die Anzahl seiner Mitglieder angemessen zu regulieren und sich zu verkleinern.

Deutsche Regelungswut überfrachtet die Verfassung

Ebenso wie der zunehmende Zentralismus schwächt der kooperative Föderalismus, das ist die Zusammenarbeit von Landesregierungen in vielen Politikfeldern, die Länderparlamente und den Bundestag. Die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wird ständig verändert, doch die Finanzverfassung (wer bekommt welche Steuern?) wird dem kaum angepasst. Das Bundesverfassungsgericht wird zu oft zu so etwas wie einem Ersatzgesetzgeber oder einer Ersatzregierung, weil die Parteien Kompromisse blockieren. Deutsche Regelungswut überfrachtet längst auch die Verfassung. Noch bedenklicher als diese politischen Gefährdungen sind allerdings Ablehnung oder vorsätzliche Missachtung des Grundgesetzes. Beides nimmt in unserer Gesellschaft zu, wird nicht selten sogar verharmlost. Ohne das Grundgesetz hätte wir keine demokratische, offene stabile Ordnung. Deshalb ist es Bürgerpflicht, unsere Verfassung zu achten und zu hüten.

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