Politik Europa: so fern, so nah

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Diese Europawahl verändert die politische Landschaft – in der EU, in Deutschland. Hier geben vor allem die jungen Menschen den Populisten glasklar Contra. Doch mit Klimaschutz allein ist es nicht getan. Besorgniserregend ist, dass ausgerechnet Franzosen und Italiener auf Distanz zur EU gehen.

Was für ein Wahlabend! Bei keiner der bisherigen Direktwahlen zum Europäischen Parlament ist uns Europa gleichzeitig so fern und so nah gewesen wie am Sonntagabend. So fern, weil es zwar um Europa ging, aber fast nur über Deutschland geredet wurde. Das ist nicht nur einem einseitigen nationalen Interesse geschuldet, sondern dem Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts in der EU. Wer ein Europa der Bürger will, die ihr Wahlrecht nutzen, muss ihnen am Wahlabend selbst auch die Stimm- und Sitzverteilung im Europaparlament liefern, und zwar nicht erst zur nachtschlafenden Zeit. Zugleich aber wurde am Sonntag deutlich, wie nah uns Europa ist. Immer mehr EU-Bürger begreifen, dass es so wichtig ist, dass man es nicht den Politikern und Bürokraten und schon gar nicht den Populisten überlassen darf. Fast überall ist die Wahlbeteiligung gestiegen, in Deutschland sogar sehr stark auf etwa 60 Prozent.

Liberale und Grüne werden an Einfluss gewinnen

Die Populisten, vor allem die von rechts, haben zugelegt, aber nicht so stark wie von ihnen erhofft. Das Lager der EU-Befürworter ist in der Summe nur wenig geschwächt, doch teilt es sich jetzt anders auf. Die Ära der stillschweigenden großen Koalition von Christdemokraten und Sozialdemokraten/Sozialisten im EP ist jedenfalls vorbei. Liberale und Grüne werden an Einfluss gewinnen. Manfred Weber, der Spitzenkandidat der EVP, wird es schwer haben, seinen Anspruch auf das Präsidentenamt der Kommission durchzusetzen. Wenn aber die 28 Staats- und Regierungschefs bei der Nachfolge Jean-Claude Junckers das Europäische Parlament einfach übergehen, oder das EP der Wahl eines Kommissionspräsidenten zustimmt, der nicht aus seinen Reihen kommt, wäre das ein harter Rückschlag für die Demokratisierung der EU. Besorgniserregend ist, dass die Bürger der beiden Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Frankreich und Italien, auf Distanz zur EU gehen, wenn auch nicht wegen ihr, sondern aus Unzufriedenheit mit der Lage im eigenen Land.

Die Herzen der Jungen fliegen den Grünen zu

Ganz nah ist uns Europa aber auch gekommen, weil diese Wahl spürbare Auswirkungen auf die politische Landschaft in Deutschland hat. Der Rechtspopulismus schwächelt erkennbar und ist weit von seiner Selbsteinschätzung entfernt, Volkspartei zu sein. Die AfD ist fast so etwas wie ein Wahlgeschenk für die Grünen. Die sammeln die Befürworter einer offenen, liberalen, sich um die Umwelt sorgenden Gesellschaft ein. Seit sie es unideologisch, bürgerlich und so modern tun, holen sie von allen anderen Parteien Wähler. Vor allem die SPD, aber auch CDU/CSU und sogar die FDP wirken dagegen fast altbacken und einfallslos. Andrea Nahles, Annegret Kramp-Karrenbauer, Angela Merkel und Markus Söder stehen schwierige Zeiten bevor. Mit innerparteilichen Grabenkämpfen und dem andauernden Infragestellen ihrer Regierungskoalition werden Union und SPD weiter verlieren. Vor allem die jungen Menschen verändern die politische Landschaft, seit sie sich wieder mehr für Politik interessieren und sich einmischen. Ihre Herzen fliegen geradezu den Grünen zu. Und die „alten“ Parteien haben noch nicht verstanden, dass sie die Jungwähler zu allererst übers Internet ansprechen müssen. Diese Europawahl wird in Brüssel und Berlin die Klimaschutzpolitik beschleunigen. Aber da gibt es keine einfachen Lösungen. Manche Illusion wird platzen. Das könnte zu einer Reidologisierung und Radikalisierung führen – insbesondere bei jungen Menschen. Das zu verhindern, ist die große Bewährungsprobe für die Grünen und auch für die EU.

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