Politik „Die Bilder des Unglücks kommen immer wieder hoch“

Bilder, die sich in die Seele der Betroffenen eingebrannt haben: die Explosion des Jets auf der Air Base in Ramstein.
Bilder, die sich in die Seele der Betroffenen eingebrannt haben: die Explosion des Jets auf der Air Base in Ramstein.

Naturkatastrophen wie der Tsunami 2004, Flugzeugabstürze, Terroranschläge – das Geschehen brennt sich in die Seele der Betroffenen ein. Wie lassen sich die schrecklichen Erlebnisse verarbeiten? Woran erkennt man eine Traumatisierung? Darüber sprach Anne-Susann von Ehr mit Alexander Jatzko, Chefarzt der Klinik für Psychosomatik am Westpfalz-Klinikum in Kaiserslautern.

Angst, Trauer, Wut, Ohnmachtsgefühle: All das sind normale Reaktionen auf ein extremes Erlebnis. Wann merkt man, dass eine fachspezifische Betreuung notwendig ist?

Notwendig ist eine Behandlung dann, wenn der Betroffene seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann, wenn er nicht mehr schlafen und seiner Arbeit nachgehen kann. Wenn der Leidensdruck so groß ist, dass er sich nicht mehr ablenken kann. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine tiefgreifende psychische Verletzung. Was sind die Symptome? Da sind beispielsweise die Bilder des Unglücks, der Gewalttat oder des Anschlags, die immer wieder und unkontrolliert hochkommen. So als würde man die Situation wieder erleben. Der Betroffene versucht es zu vermeiden, darüber zu reden oder an den Ort zu gehen, wo es passiert ist. Und er lebt in einer andauernden Anspannung, jetzt könnte das Schreckliche wieder passieren. Können Traumatisierte geheilt werden? Wir gehen davon aus, dass im Moment des Traumas das Gehirn nicht richtig funktioniert und überfordert ist, das Gesehene oder Erlebte richtig abzuspeichern. So können später die Bilder des Geschehens immer wieder hochkommen. Und da die Bilder nicht richtig verknüpft sind, hat der Betroffene sie nicht unter Kontrolle. Ziel einer Therapie wäre, dass das Großhirn wieder die Kontrolle über die nicht richtig abgespeicherten traumatischen Bilder und Reaktionen erlangt. Und wie kann dies geschehen? In Deutschland gibt es zwei zugelassene Therapieformen – die Verhaltenstherapie und das EMDR, das Eye Movement Desensitization and Reprocessing, gemeint ist die Verarbeitung durch Augenbewegung. Kann man selbst Strategien einüben, um Traumafolgen zu bessern? Jeder Mensch verfügt über eine natürliche Fähigkeit, auch mit belastenden Ereignissen umzugehen. Zwei Drittel der Menschen gelingt es, nach einer traumatischen Situation mit ihrem Leben gut zurechtzukommen. Hierbei kann helfen, sich abzulenken, wenn die Bilder des Geschehens sehr belastend vor dem inneren Auge vorbeiziehen. Dazu kann man Skills anwenden, das heißt: etwas tun, was das Großhirn aktiviert, damit es wieder Kontrolle über Gefühlszentren und die Bilder bekommt. Ziel ist, mehr Kontrolle über das Leben zu bekommen. Hierbei kann auch Achtsamkeit mit Entspannungsverfahren helfen. Was sind denn Skills? Alles, was einen großes Reiz erzeugt und das Großhirn hochfährt: schöne Bilder, Musik, Rechenaufgaben – beispielsweise von 1000 sieben abziehen, davon wieder sieben und so fort – , auf etwas Scharfes wie eine Chilischote beißen oder Eis auf die Haut legen. Vor wenigen Wochen haben Ihre Eltern Sybille und Hartmut Jatzko, Sie selbst und weitere Mitstreiter die bundesweite Stiftung Katastrophen-Nachsorge gegründet. Braucht es so etwas heute noch – 30 Jahre nach Ramstein und all den Erfahrungen, die inzwischen gemacht wurden? Ja, denn die Katastrophenpläne, die es gibt, reichen nur bis wenige Tage nach dem schrecklichen Ereignis. Es gibt bisher keine einzige Organisation, die langfristig für die jeweilige Katastrophe eine Schicksalsgemeinschaft installiert, in der Opfer, Hinterbliebene und Angehörige zusammenkommen und sich stützen können. Bislang ist alles danach ausgerichtet, dem Einzelnen im normalen Krankenkassensystem zu helfen, aber nicht einer ganzen Gruppe. In dem derzeitigen System bleibt für Hinterbliebene wie beispielsweise die Eltern der 2015 bei dem Flugzeugabsturz in den französischen Alpen umgekommenen Schüler nur eine individuelle Psychotherapie. Sie sind nicht traumatisiert, aber sie leiden sehr. Auch ihnen helfen Schicksalsgemeinschaften, die das Gefühl geben können, nicht alleingelassen zu sein.

Jatzko
Alexander Jatzko
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