Politik Chemnitz: Besuch an einem Ort der Missverständnisse

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Viele Chemnitzer verstehen nicht, warum ihre Stadt jetzt in Verruf geraten ist. Sie stimmen den rechten Demonstranten zu und wollen doch nicht rechts genannt werden. Ein Besuch an einem Ort der Missverständnisse.

Menschen bleiben stehen. Still verharren sie vor Hunderten Kerzen und Blumen. In der Mitte ein Bild. Es ist das Foto von Daniel H. Er ist vor einer Woche auf dem Chemnitzer Stadtfest erstochen worden. Mutmaßlich von zwei Flüchtlingen. Im Anschluss kam es in Chemnitz zu Demonstrationen. Da wurden unter anderem ausländisch aussehende Menschen gejagt. Die Bilder gingen um die Welt. Sie lösten Empörung aus, was wiederum in Chemnitz empört. Zwei bedruckte Din-A4-Seiten am Tatort in der Brückenstraße 8 zeugen von der Aufwallung: Auf der einen steht: „Es ist schon bemerkenswert, dass die Tatsache, dass gegen Mord und Totschlag demonstriert wird, größere Empörung auslöst als Mord und Totschlag selbst.“ Auf der anderen ist zu lesen: „Wieviel Tote, Verletzte, Vergewaltigte braucht es noch, bis der Staat seine Bürger vor ,Schutzsuchenden’ schützt?!“ Irgendwas geht schief hier. Die einen verstehen die anderen nicht. Hier Politiker, Medien, Eliten und viele Westdeutsche – da Bürger, die meinen, sie seien „das Volk“ und sie seien viele. Beide Seiten fühlen sich miss-, falsch- oder unverstanden. Alles funkt auf unterschiedlichen Wellenlängen. Sie reden aneinander vorbei, einige reden gar nicht mehr.

Endlosspirale in die Unversöhnlichkeit

Es ist nicht bekannt, wer die Frage gestellt und das Statement auf den Din-A4-Seiten formuliert hat. Eine „Wutbürgerin ohne rechten Hintergrund“, wie auf einem anderen Zettel handgeschrieben steht? Oder instrumentalisieren doch wieder Rechtsradikale die Straftat? Manche meinen, zwischen der „Wutbürgerin“ und den Radikalen gebe es keinen Unterschied, was wiederum die „Wutbürger“ in Rage bringt. Eine Endlosspirale, die in die Unversöhnlichkeit führt. Eine weißhaarige Frau am Tatort schimpft. Auf die Politik, auf die Justiz, auf die Medien, auf die Migranten. „Meine Tochter ist auch schon von denen belästigt worden.“ Mit „denen“ meint sie Flüchtlinge. „Und wenn man dann sagt, die Täter müssen hart bestraft werden, ist man gleich rechts. Das regt mich am meisten auf!“ Es kommt immer wieder hoch. Links, rechts, gut, schlecht. Zwischentöne gibt es nicht. Emotionen spülen den Diskurs fort. Viele fühlen sich in eine Ecke gedrängt, in die sie nach eigener Wahrnehmung nicht gehören. „Die Medien“ hätten nach den Demonstrationen nur über die Chaoten berichtet. Die Journalisten wollten nicht verstehen, dass viele Chemnitzer inzwischen Angst hätten. Stattdessen würden Bürger an den Pranger gestellt. „Die Medien – das sind die größten Volksverhetzer!“, sagt die Weißhaarige. Ein Rentner stimmt zu: „Wenn 10.000 Leute demonstrieren und 500 davon sind Chaoten, bleiben noch 9500. Was ist mit denen?“

Hier die Bösen, da die Guten

Der Rentner, die Weißhaarige – sie fühlen sich mindestens miss-, vermutlich eher bewusst falschverstanden. Und zugleich scheint es, als richteten sich manche ein in diesem Missverständnis. Denn dann gibt es ein klares Rollenbild: hier die Bösen, da die Guten. Es ist ein moralisch fest gefügtes Weltbild. Die eigene Position muss nicht mehr hinterfragt werden. Beim „Sachsengespräch“ in Chemnitz – einem Dialogversuch mit den Bürgern – bekommt Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) Ähnliches zu hören. Eine Frau aus dem Sicherheitsgewerbe sagt, sie sei weder links noch rechts. Bloß weil sie, wie viele andere Teilnehmer an den Chemnitzer Demonstrationen, die Bluttat an Daniel H. verurteile, werde sie in einen Topf mit Rechtsextremisten geworfen. Sie ist wütend über die Berichterstattung, über diese „Lügen“ und Pauschalisierungen. Aus Trauernden machten die Medien einen braunen Mob. Ein Mann gibt zu bedenken: „Die Medien können nicht alle falsch berichten.“ Gelächter.

"Es ist anstrengend, hier zu leben"

Werner Patzelt ist Politikwissenschaftler an der TUt Dresden. Er forscht seit Langem über Befindlichkeiten im Osten. Er stellt die Chemnitzer Ereignisse in größere Zusammenhänge: „Viele in Ostdeutschland empfinden, dass so manches aus dem Westen ihnen auch gegen offenkundigen Widerstand aufgezwungen wurde: vom Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nach der Wiedervereinigung über westdeutsche Kultur- und Politikeliten bis hin zu jener Migration, die die großen Demonstrationen und die großen Wahlerfolge der AfD auslösten“, sagt er dem TV-Sender Phoenix. Es tauche bei vielen Menschen angesichts der Chemnitzer Bluttat nun das trotzige Gefühl auf: ,Wir hatten schon immer recht gehabt.’ Für sie zeige die Wirklichkeit, dass es falsch war, die Bürger nicht ernst zu nehmen und den Menschen stattdessen krankhafte Gesinnungen zu unterstellen. Die Chemnitzer Bürgerreaktionen seien Teil einer Kette von Ereignissen. Ein Mann steht an einer Bushaltestelle, geschätzt 65 Jahre alt. Er sagt: „Ist nicht mehr schön hier.“ Er gehe seit Tagen nicht mehr in die Innenstadt. „Zu gefährlich!“ Überhaupt, die Kriminalität, die sei sehr gestiegen. Und dann seufzt er leise: „Es ist anstrengend, hier zu leben.“ Die Leute hätten keinen Respekt mehr vor der Polizei.

Gefühle gegen Tatsachen

Seltsam. In der Innenstadt kommt dem Besucher nichts gefährlich vor. In den Cafés herrscht Betrieb. Vor dem Turm-Brauhaus gegenüber dem historischen Rathaus stehen Tische und Stühle. Gäste genießen den Sommer. Und in der Statistik der Polizeidirektion Chemnitz ist zu lesen: Die Kriminalitätsrate war 2017 auf dem niedrigsten Stand seit 2011. Schon wieder so ein Fall des Missverstehens. Bei der sensiblen Kriminalitätsfrage stehen sich Gefühle und Tatsachen oft krass gegenüber. Frank Richter war früher Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung. Er hat viele Dialogrunden organisiert zwischen „oben“ und „unten“. Wessis gilt er als Ossi-Versteher. Richter sagt, natürlich gehe es auch um Wahrnehmungen. Dank moderner Kommunikationsmittel könnten die rasanten Umbrüche in der Welt inzwischen vom eigenen Wohnzimmer aus verfolgt werden. Ordnungssysteme zerfielen, Gewissheiten verflögen, Unübersichtlichkeit sei die Folge. „Das Maß an Verunsicherung – auch durch Bedrohungen, die nur imaginiert werden –, hat ein gewaltiges Ausmaß angenommen“, erklärt er im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Aber warum reagieren Ost-Bürger heftiger als Westler? Richter erklärt das so: „In Ostdeutschland gibt es Teile der Gesellschaft, die extrem verunsichert, ja erschüttert sind, was ihre Orientierung, ihre weltanschauliche und ethische Stabilität betrifft.“

Unverständnis darüber, was Freiheit und Demokratie ausmachen

Brückenstraße 8. Ein Rentner, geschätzt 70 Jahre alt, lässt sich grundsätzlich über die Freiheit in der Demokratie aus. Irgendwann belehrt er die Umstehenden: „Wenn einer ein Nationalsozialist ist, dann ist das sein gutes Recht.“ Die Umstehenden hören schweigend zu. Beim „Sachsengespräch“ kommt das Gespräch auf die Hitler-Grüße bei einer Demonstration. Eine Frau glaubt, mindestens in einem Fall stecke ein Linker dahinter. Ministerpräsident Kretschmer widerspricht – und erntet lauten Bürgerprotest. Kretschmer fügt hinzu, ein Hitler-Gruß sei nicht hinzunehmen. Kaum Reaktionen. Beim Rentner, der über Freiheit räsoniert, und bei einigen Teilnehmern des „Sachsengesprächs“ herrscht offenbar ein völliges Unverständnis darüber, was Freiheit und Demokratie ausmachen. Können beide schrankenlos sein? Im Strafgesetzbuch steht: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“

Weiß er, was er sagt und meint?

Ein Radfahrer, Mitte 40, blickt in der Brückenstraße 8 auf das Kerzenmeer. Dann redet er sich in Rage. Die Rechtsprechung sei zu lasch. Sie müsse „drastisch“ sein. In der DDR habe es doch auch die Todesstrafe gegeben, sagt er. Und ganz früher habe im Dorf ein Galgen gestanden. Zur Abschreckung. Weiß er, was er sagt und meint? Das Grundgesetz ist geprägt von den Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem furchtbaren Nationalsozialismus. Das „gesunde Volksempfinden“ sollte eben nicht mehr Regie führen. Vermutlich auch deshalb meint Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates: „Die Lehre aus Chemnitz lautet: Wir brauchen mehr kulturelle und politische Bildung in Chemnitz, in Sachsen, in ganz Deutschland – jetzt!“

Ludwig wird ausgelacht

Beim „Sachsengespräch“ hebt Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) an. „Liebe Chemnitzerinnen ...“. Der Rest geht unter. Er wird verschluckt von Unmutsäußerungen. Irgendwann sagt sie: „Sicherheit ist ein Thema, das nehme ich sehr ernst.“ Ludwig wird ausgelacht. „Oben“ und „unten“ – sie können sich kaum noch verständigen. Dazu der Politikwissenschaftler Werner Patzelt: Viele hätten dem Gemeinwesen trotzig gekündigt. Sie seien auf der Erregungsspur. Die Entwicklung habe ein Stadium erreicht, „dass ich wirklich allmählich fürchte“, sie sei nur noch schwer aufzuhalten. Eine düstere Prognose …

Rechte Demonstranten in der Nacht zum vergangenen Sonntag, als es zu Jagdszenen und Gewalt kam.
Rechte Demonstranten in der Nacht zum vergangenen Sonntag, als es zu Jagdszenen und Gewalt kam.
Demonstranten bei einer Kundgebung der Bewegung Pro Chemnitz.
Demonstranten bei einer Kundgebung der Bewegung Pro Chemnitz.
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