Politik Berlin: Ein Flughafen pfeift aus dem letzten Loch

Am Sonntag stimmen die Berliner Bürger in einem Volksentscheid darüber ab, ob der Airport Tegel weiter genutzt werden soll. Dessen Schließung wurde schon vor Jahren beschlossen. Die Infrastruktur aus den 70er Jahren ist marode. Doch der neue Großflughafen BER funktioniert noch immer nicht. Außerdem ist klar, dass seine Kapazität nicht ausreicht.

Wer zum ersten Mal auf dem Kurt-Schumacher-Platz im Berliner Westen, unweit der Autobahn 111, steht, der erschrickt bis ins Mark. So laut ist es, wenn plötzlich ein Airbus zur Landung ansetzt und mit einem Höllenlärm die Dachfirste erzittern lässt. Die Flugzeuge fliegen oft im Minutenabstand über den Platz zum westlich gelegenen Flughafen Tegel, und so tief, dass sich von unten die technischen Beschriftungen haargenau erkennen lassen. Bei seiner Eröffnung 1974 galt Tegel als der modernste Airport Europas. Heute ist er ein Sanierungsfall. Die altersschwache Technik fällt immer öfter aus, die Kapazitätsgrenze ist längst erreicht. 18.000 Störungen gibt es jährlich, mal klemmt nur ein Gepäckband, das mit etwas Schmieröl und ein paar Handgriffen wieder zum Laufen gebracht wird. Mal steht aber auch der gesamte Betrieb auf dem Spiel – wie im Juni, als das durch Starkregen beschädigte Starkstromkabel für 500.000 Euro ausgetauscht werden musste. Es stammte noch aus einer Zeit, als die West-Alliierten in West-Berlin das Sagen hatten. Über Wochen war unter anderem der Tower für die Flugsicherung über eine ähnlich alte Ersatzleitung angeschlossen. Es ist alles gut gegangen – wie so oft in den vergangenen Jahren, obwohl die gesamte Anlage, wie Mitarbeiter sagen, aus dem letzten Loch pfeift. Für sechs Millionen Passagiere pro Jahr wurde der Flughafen einst geplant. Nach diversen Erweiterungen wurden im vergangenen Jahr mehr als 21 Millionen Fluggäste abgefertigt. Mehr geht nicht, denn mehr als insgesamt 52 Starts und Landungen pro Stunde verkraftet Tegel nicht. Damit die Maschinen weiter an das markante sechseckige Gebäude des Terminals A unfallfrei andocken können, muss weiter investiert werden: In den nächsten Monaten fließen Millionen in die Instandsetzung der Start- und Landebahnen, die Beseitigung von Betonkrebs an Rollwegen und in das Erneuern von Wasserleitungen und Teilen der Bahnbeleuchtung. Es sind nur die allernotwendigsten Arbeiten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Denn eigentlich sollte Tegel seit mindestens fünf Jahren schon geschlossen sein. Das haben die Länder Berlin und Brandenburg sowie der Bund entschieden, darauf sind alle Planungen und Genehmigungen ausgerichtet. Der amtliche Schließungsbeschluss liegt seit Jahren vor, er ist nur wegen den Verzögerungen auf der Chaos-Baustelle des künftigen Großflughafens BER vor den Toren der Stadt aufgeschoben. Im Planfeststellungsverfahren und in der Landesplanung Berlin-Brandenburgs ist BER als „Single-Airport“, als einziger Flughafen der Hauptstadtregion festgeschrieben. Und dennoch sollen die Berliner am Sonntag über die Offenhaltung des Flughafens Tegel abstimmen. Der Volksentscheid hätte Erfolg, wenn die Mehrheit der Teilnehmer und mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten – also mehr als 600.000 – für das Anliegen stimmt. Durch die Kopplung an die Bundestagswahl ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass zumindest das Quorum erreicht wird. Ohne die FDP würde es die Debatte über den Weiterbetrieb von Tegel gar nicht geben. Die Liberalen suchten vor der Abgeordnetenhauswahl 2016 händeringend ein zugkräftiges Thema, mit dem sie es wieder ins Parlament schaffen könnten. Sie fanden es mit dem innerstädtischen Airport, der niemandem in der Hauptstadt gleichgültig und vor allem bequem zu erreichen ist. Tatsächlich schaffte die FDP die Rückkehr mit 6,7 Prozent, organisierte ein Volksbegehren und hofft jetzt, auf der emotionalen Welle der „Tegelretter“-Bewegung auch bei der Bundestagswahl ein Spitzenergebnis zu landen. Unterstützt wurde die Pro-Tegel-Kampagne erst von der AfD und – nachdem die CDU die Regierungs- mit der Oppositionsbank tauschte – auch von der Hauptstadt-Union. Dabei war die CDU über ein Jahrzehnt maßgeblich an allen Entscheidungen zur Nachnutzung von Tegel beteiligt gewesen. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) betont, beim Volksentscheid gehe es nicht nur um einen Flughafen, sondern um „die Stadtentwicklungspolitik für kommende Generationen“. Tatsächlich gibt es in der Millionenstadt Berlin, die nach wie vor großen Zuzug erlebt, keine vergleichbare Fläche von fast 500 Hektar. Müller möchte dort den Unicampus der Beuth-Hochschule ansiedeln, dazu Forschungseinrichtungen und Industriebetriebe. Rund 9000 neue Wohnungen und riesige Grünflächen sollen entstehen. Seit Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende August klarstellte, dass die Eröffnung des BER „unabdingbar“ mit der Schließung Tegels verbunden sei, übt die Berliner CDU nun die Rolle rückwärts: Jetzt plädiert die Hauptstadt-Union für einen befristeten Weiterbetrieb nach der BER-Eröffnung. Dagegen sprechen freilich auch die hohen Sanierungskosten. Laut Engelbert Lütke Daldrup, Chef der Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg (FBB), ist gut eine Milliarde Euro für die Sanierung des Airports notwendig. Hinzu kämen mindestens 400 Millionen Euro für den Lärmschutz, falls der Betrieb fortgesetzt werden würde. Im Falle einer kompletten Instandsetzung, so der FBB-Geschäftsführer, müsste man die Gebäude entkernen, was die Kapazitäten enorm einschränken würde. Ein Parallelbetrieb von BER und Tegel würde zudem Mehraufwendungen von rund 200 Millionen Euro jährlich bedeuten und damit wohl zu einem Zuschussgeschäft für den Steuerzahler werden. Schwerwiegend ist auch die rechtliche Situation. Im vom Bundesverwaltungsgericht bestätigten Planfeststellungsbeschluss von 2006 heißt es, der BER stehe „unter dem Vorbehalt der endgültigen Schließung der Flughäfen Tempelhof und Tegel spätestens nach einer Übergangszeit von sechs Monaten“. Würde also Tegel offengehalten, drohen für beide Standorte Klagewellen, die sich über Jahre hinziehen könnten. Im schlimmsten Fall stünde Berlin ohne genehmigten Airport da. Vor allem benötigte der innerstädtische „TXL“ eine neue Betriebserlaubnis: Tegel ist unter alliiertem Besatzungsrecht gebaut worden. Planfeststellungsverfahren, Bürgerbeteiligung, Widerspruchsverfahren bis zum Bundesverfassungsgericht – all diese Hürden, die das Projekt BER überspringen musste, gab es damals nicht. Mehrere juristische Gutachten kommen zu dem Schluss, dass man nicht einfach den Widerruf der Betriebserlaubnis widerrufen könne und die ursprüngliche Betriebserlaubnis dann wieder auflebe. Vor allem aber kann Berlin gar nicht allein über einen Weiterbetrieb Tegels entscheiden; Brandenburg würde gewiss nicht zustimmen. Im Gegensatz zur Abstimmung über die Zukunft des Tempelhofer Feldes im Jahr 2014 ist die Befragung zu Tegel am Sonntag mit keinem Gesetzentwurf verbunden, hat also keinerlei bindende Wirkung. Dennoch gibt es auch Argumente für Tegel, vor allem die Sorge, die Kapazitäten des BER alleine seien einfach viel zu gering. Der Großflughafen am Rande der Stadt ist für nur 22 Millionen Fluggäste ausgelegt. Tatsächlich werden 2019/20 bereits 35 Millionen Passagiere erwartet. Nach der letzten Erhebung (Infratest-dimap) sprachen sich 55 Prozent der Befragten für eine Offenhaltung Tegels aus – 14 Prozent weniger als im Mai. Die Flughafen-Debatte spaltet mitunter Familien und sie wird in jedem Bezirk anders gewichtet. 300.000 Berliner leiden unter dem Krach des Flughafens. Doch selbst in der Einflugschneise um den Kurt-Schumacher-Platz – der reale Lärmpegel liegt hier über 75 Dezibel – trifft man nicht nur Anhänger der Schließung. „Viele Häuser sind in letzter Zeit schon verkauft worden“, sagt eine ältere Frau an der Würstchenbude. „Es wäre zwar schön, wenn es hier leiser werden würde. Aber ich und auch etliche Nachbarn haben Angst, dass wir bald die Mieten nicht mehr bezahlen können.“

x