Kultur Verklärte Depressionen

Dirigiert mit Körpereinsatz: Teodor Currentzis.
Dirigiert mit Körpereinsatz: Teodor Currentzis.

Zuerst das Bratschenkonzert von Alfred Schnittke, dann die fünfte Sinfonie Peter Tschaikowskys: Beim Konzert des SWR Symphonieorchesters unter Leitung des neuen Chefdirigenten (und Wahlrussen) Teodor Currentzis im Mannheimer Rosengarten standen die Zeichen ganz auf die auskomponierten Depressionen der russischen Seele. Wenigstens der Solist Antoine Tamestit war Franzose.

Irgendwie ist es ja schon anders. Natürlich ist das Ego von Teodor Currentzis riesengroß. Beim Dirigieren ist der ganze Körper in Aktion, ohne Taktstock, aber mit aufgelegter Partitur. Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln sind sein Markenzeichen, eine Art Strumpfhose das Beinkleid: So steht der Mann fest auf dem Podium. Muss man aber nicht ernster nehmen als es aussieht. Der 46-Jährige kann was, nur eben nichts aus jener Tradition, die zu Recht als Schlamperei gilt. Wenn er Tschaikowsky dirigiert, sind die Tempi, vor allem im Finale, schon ziemlich rasant, den dritten, fast demütig zurückgenommenen Walzer-Satz ausgenommen. Der nicht bräsig ausgewalzte Andante-Teil des ersten Satzes ist schon mal sympathisch. Die Klarinette tönt verhalten schön, die Streicher dürfen und können (auch im folgenden) so weit ausholend singen, als gäbe es nichts Natürlicheres auf dieser Welt. Das aus Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zwangsfusionierte Orchester klingt, als habe es immer schon so gespielt. Und: Kein Takt in Currentzis eigenwilliger, alles andere als kleinlichen Deutung ist unbegründet. Selbst in der Hektik ist alles logisch aus der kompositorischen Substanz entwickelt. Da nimmt man Tschaikowskys sinfonisch verklärte Depressionen schon ohne ästhetische Gewissensbisse entgegen. Mit „russischer Seele“ hatte man es eingangs schon mit Alfred Schnittkes, dem Drängen des großen Yuri Bashmet zu dankenden Bratschenkonzert zu tun. Die Entstehungszeit 1985 ist wichtig, es ist das Jahr, in dem den Komponisten der erste von vier Schlaganfällen ereilte, durch den er für kurze Zeit klinisch tot war. Das war nach der Komposition des Dreisätzers, der mit seinem auskomponierten Herzstillstand am Ende freilich wie eine Vorahnung der Katastrophe klingt. Schnittke hat das mit jenem heiligen Ernst komponiert, der der westlichen Musik längst abhanden gekommen ist. Das macht ihn auf eine seltsam anachronistische Art und Weise unantastbar. Auch hier glüht und wabert es im dunkel klingenden Orchester (ohne Violinen), irrlichtern Walzerfragmente durch die Partitur. Der Solist ist fast pausenlos im Einsatz, und der 39-jährige Antoine Tamestit, ARD-Preisträger von 2004 und Mitglied in Frank Peter Zimmermanns mirakulösem Trio, er war es mit schier atemberaubender Selbstverständlichkeit. Seine 1672 von Antonio Stradivari gebaute Bratsche ist das ideale Instrument für einen Meister des 20. Jahrhunderts. Mit zwei Zugaben belohnter Riesenapplaus für den unscheinbar auftretenden Musiker.

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