Kultur Meeres-Geschichten

Weißer Sand, so weit das Auge reicht: Der Strand von Julianadorp aan Zee.
Weißer Sand, so weit das Auge reicht: Der Strand von Julianadorp aan Zee.

Sicherlich könnte man sich berühmtere Orte in Europa vorstellen, Orte, an denen sich die Menschen im Selfie-Wahn gegenseitig auf den Füßen stehen. Die Ponte Vecchio in Florenz zum Beispiel. Die Karlsbrücke in Prag. Oder die Bibliothek von Dublin. Julianadorp und der dazugehörige Badeort Julianadorp aan Zee sind eher unspektakulär. Und beide trennt (oder verbindet, denn das macht den Zauber aus), dass in dem ursprünglichen Ort die Holländer quasi unter sich bleiben (sieht man von den Einkaufszentren ab), während sie in Julianadorp aan Zee absolut in der Minderheit sind. Regelrechte Wohnhäuser gibt es hier nur ein paar Dutzend. Dafür reiht sich Ferienpark an Ferienpark. Und alle sind fest in deutscher Hand. Nun kann so etwas ja auch eher unangenehm sein. Schlechte Erinnerungen an Reisen mit der Fußballmannschaft werden wach, bei denen wir früher unsere Mannschaftskasse auf den Kopf gehauen haben. Auf Mallorca zum Beispiel, eingefallen zusammen mit zigtausenden anderen deutschen Touristen, stieg einem spätestens, als man wieder zu Hause war, die Schamesröte ins Gesicht. Und man wollte einfach nur noch Abbitte leisten gegenüber den Einheimischen. Im etwa einer Stunde von Amsterdam entfernten „Strandslag“ – so heißt der Park, in dem meine Schwiegereltern vor fast 30 Jahren ein Ferienhaus gekauft haben – ist das anders. Der Park hat sich im Laufe der Jahre zu einem kleinen Dorf entwickelt, zum Strand sind es zu Fuß etwa 10 bis 15 Minuten. Früher hatten wir dann im berühmten Bollerwagen – ein unerlässliches Gefährt für den Nordseeurlaub – die Kinder sitzen, für zusätzliches Gewicht sorgte die Strandausrüstung mit kleinem Windfang, Sonnenschirm, Decken, Handtüchern, Bällen, zahlreichen Eimern, Schaufeln und was man sonst noch so brauchte für einen Tag am Meer. Gerade bei – wenn auch vom Nordseewind leicht runtergekühlten – 30 Grad kann das im tiefen weißen Sand zu einer ziemlich anstrengenden Angelegenheit werden. Und weißen Sand gibt es in Nordholland zu Genüge. Der Sandstrand beginnt beim nördlich von Julianadorp gelegenen Marinestädtchen Den Helder und zieht sich dann kilometerlang die Küste entlang, vorbei an Orten wie Schoorl oder Bergen und Egmont aan Zee. Getrennt wohnen, gemeinsam einkaufen. Und am Strand ist man dann ohnehin wieder vereint. Neiderblasst sieht man den Einheimischen dabei zu, wie sie auch das zum Teil erschreckend kalte Nordsee-Wasser nicht vom Baden abhalten kann. Während sich die Holländer an den Dünen-Zugängen zu den Stränden tummeln, meist mit einer Kühltasche bewaffnet und lässig in ihren mitgebrachten Stühlen sitzend, zieht der Deutsche im Regelfall etwas mehr Privatsphäre vor. Er marschiert also weg von den Zugängen, weg auch von den meist sich dort befindenden Strandlokalen, in denen man neben gekühltem Bier auch holländische Spezialitäten wie Bitterballen oder Frikandel (es ist mir allerdings in über 20 Jahren noch nicht gelungen, den Fleischinhalt endgültig zu identifizieren) neben den obligatorischen Pommes genießen kann, und sucht sich ein Plätzchen für sich alleine. Die Größe des Strandes macht es möglich. Und dann kommt der Moment, in dem Jahr für Jahr, bei zwei bis drei Holland-Aufenthalten, der Schalter auf Urlaub umgelegt wird. Von jetzt auf sofort. Es reicht, die Augen zu schließen und dem Meer zuzuhören, das immer anders klingt und doch stets dieselbe Geschichte erzählt. Schneller kann man den Ärger und Stress aus dem Büro nicht hinter sich lassen. Dabei waren die ersten eigenen Holland-Erfahrungen alles andere als positiv. Wir waren, zu Beginn des Studiums, mit dem Konzertchor Darmstadt zu unseren Nachbarn gereist, um vier Konzerte von Hector Berlioz’ „La Damnation de Faust“ in Den Haag und Utrecht zu singen. Untergebracht waren wir – natürlich – in einem Badeort, in Scheveningen bei Den Haag. Es war Ende der 1980er Jahre, und gerade im Fußball lebten die beiden Länder ihre Rivalität mit einer unverblümten Offenheit aus, die schon auch mal hässlich sein konnte. Ein Strand, ganz anders als in Julianadorp. Zubetoniert mit Hotels. So, wie man das vielleicht von der Costa Brava oder der Algarve-Küste kennt. Den Fehler haben die Holländer jedenfalls nicht weiter verfolgt. Doch der Empfang, als wir nach der Fahrt von Heidelberg nach Scheveningen, die wir weitgehend probend verbracht haben, aus dem Bus ausstiegen, war bestenfalls suboptimal. Jugendliche, kaum jünger als wir, begrüßten uns mit dem Hitlergruß. Eigentlich wollte ich danach nie wieder da hin. Nun muss man wissen, wie sehr die Holländer noch Jahrzehnte nach dem Krieg unter dem Trauma der NS-Besatzung gelitten haben. Und wie sehr auch die relativ hohe Zahl an Nazi-Kollaborateuren während des Zweiten Weltkriegs ihr Selbstverständnis belastete. Als beispielsweise der Autor Harry Mulisch dieses Thema 1982 in seinem Roman „Das Attentat“ aufgriff, wurde er scharf kritisiert. Doch die Zeiten haben sich geändert, und mit ihnen das Verhältnis zwischen Deutschen und Holländern. Mittlerweile feiern wir zahlreiche Niederländer in der Fußballbundesliga und können auch mit einer Niederlage gegen Oranje umgehen. So, wie umgekehrt. Dennoch war da an Ostern ein leicht mulmiges Gefühl, als wir zum ersten Mal Rotterdam besuchten, schließlich hatte die deutsche Luftwaffe die Stadt im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt. Doch die Sorge war unbegründet. Die Menschen begrüßten uns offen und ohne Vorurteile. Zwar wird in der bunten, quirligen Metropole weniger Deutsch gesprochen als in den Urlaubregionen an der Küste. Aber mit Englisch kommt man bestens durch, und Ressentiments gegen die Besucher aus Deutschland waren nirgendwo zu spüren. Offensichtlich ist der Krieg lange genug her. Und eben deshalb ist Holland mein Europa. Weil es auch für den Frieden steht, in dem die europäische Gemeinschaft seit Kriegsende leben darf.

x