Kultur Kein Konfetti

Bücher zum Mitnehmen: Lara Favarettos Werk „Library“ in der Kunsthalle Mainz.
Bücher zum Mitnehmen: Lara Favarettos Werk »Library« in der Kunsthalle Mainz.

Ein „Zigeunerwagen“ an einem gigantischen Kran, baumelt hoch über dem Turiner Schloss Rivoli. Rotationsbürsten auf Hochtouren schmirgeln Farbspuren an die Wand, bis sie sich wie verrückt ins Leere drehen. Ein Citroën, zum Zeichengerät umgedeutet, schrammt durch Museumssäle. In der Kunst der 1973 in Treviso geborenen Berlinerin Lara Favaretto ist oft spektakulär viel los. Jetzt zeigt die Kunsthalle Mainz unter dem Titel „Need Or No Need“ die erste Retrospektive der Künstlerin in Deutschland. Normalerweise stellt sie bei Großschauen wie der Documenta, der Venedig-Biennale, in Münster oder in der New Yorker MoMa-Dependance PS1 aus.

Um es gleich vorweg zu sagen: Die hohen Erwartungen an Action erfüllt Lara Favarotto nicht gerade. Auch fehlt Konfetti, sonst eines ihrer liebsten Kunstmittel, tonnenweise verwendet, ob sie die Kleinteile vor den antiken Steinfiguren der Kopenhagener Glyptotek aufwirbelt oder andernorts zu immer neuen bunten Haufen zusammenventiliert. Konfetti deshalb, weil ihre Werke oft in Ernüchterung endenden Festen ähneln. Und das Spaßmaterial ist dafür geradezu prädestiniert. Erst Augenblicks-Ausdruck von Lebensfreude, dann Abfall, der post festum zusammengekehrt werden muss. Schade eigentlich, dass Favarettos Werke, die in der Mainzer Kunsthalle gezeigt werden, schon von Anfang an vergleichsweise ausgenüchtert wirken. Wie Exerzitien zwischen Konzeptkunst, Minimalismus und – der Herkunft der Künstlerin näher –: Arte Povera, der stark italienisch geprägten Kunstrichtung, die mit sogenannten armen Materialien arbeitet. Baugerüststangen etwa, die sie in Mainz zu einem meterlangen rechteckigen Teppich aufgereiht hat. Betreten verboten und gefährlich, eine der Stangen ist rätselhaft mit lilafarbener Wolle umwickelt. „Need Or No Need“, für was ist Bedarf, für was nicht, was lässt sich einer Sache wegnehmen oder hinzufügen mit Gewinn, was wieder verwerten, wie die Gemälde unbekannter Meister/innen, auf Flohmärkten gekauft, die die Künstlerin mit Wolle stramm umwickelt, so dass sich eine Gerhard-Richter-Unschärfe über sie legt. Der Titel der Ausstellung jedenfalls deutet es schon an, dass Favaretto ihre Artefakte auch gesellschaftspolitisch gedeutet sehen will. Sie spielt mit Gegensätzen, initiiert Verwandlungsprozesse, die Auskunft über Raum und Zeit geben sollen, versinnbildlicht etwa durch einen Koffer, der scheinbar achtlos an der Wand steht. Kunst? Oder kann es weg? Seit 1997 hinterlässt die Künstlerin solcherart übriggebliebene Gepäckstücke, die sie erst ersteigert, dann ausräumt, um eigene überflüssige Dinge einzupacken und den Schlüssel wegzuwerfen. Mittlerweile allerdings, in Zeiten des Terrors, birgt ein herrenloser Koffer auch ein erhebliches Angstpotenzial. Favaretto spielt mit Gegensätzen wie Farbigkeit, Monochromie, fest und biegsam. Hinzu kommt, dass einiges – und mutmaßlich mit Absicht – einem wie so schon einmal gesehen vorkommt. Die musealisierten rostigen Stahlplattenabdeckungen von Baugruben zum Beispiel, die auf dem Hallenboden liegen und durch deren Auslassungen man auf unterlegten farbigen Seidenstoff blickt, sie erinnern an Skulpturen von Richard Serra. Bei dem Video „Eraser“ (1997 bis 2012) denkt man dagegen unwillkürlich an die Arbeiten von Bruce Nauman aus den Sechzigerjahren, bei denen er in seinem Atelier seltsam sinnlose Körperaktionen vollführt. Wie auf einem Bein stehen, sich verrenken, Winkel bilden. Die Geschichte von Nauman dazu ist, dass er sich in seinem ersten eigenen Atelier fragte: Was jetzt? Und erst einmal mit dem anfing, was er hatte: sich. Eine ähnliche Motivation dürfte auch in dieser frühesten von Favarettos Arbeiten der Ausgangspunkt gewesen sein. Zu sehen ist eine zehnminütige Endlosschleife, zusammengeschnitten aus 90 Minuten Material, Favarettos weiße Atelierwand in der Londoner Kingston University, an die immer wieder ein Radiergummi fliegt und abprallt, manchmal verfehlt es auch den Bildausschnitt und springt nur kurz in den Blick. Werferin ist die Künstlerin, die außerhalb steht, liegt, oder was auch immer. „Je aggressiver das Radiergummi geworfen wird“, heißt es dazu in der Katalogbroschüre bedeutungsoffen, „je mehr ist eine Frustration auf beiden Seiten spürbar. Unterstützt wird dieses Gefühl durch die Leere, die durch die weißen Wände bestimmt wird, auf der es nichts zu entfernen gibt. Das Warten auf ein Ende, auf eine unverhoffte Veränderung, trägt sich in Lara Favarettos Arbeitsweise fort, die durch serielles Arbeiten bestimmt wird“. Ehrlich gesagt übersteigt die hochfliegende Beschreibungsprosa von Kunsthallen-Direktorin Stefanie Böttcher öfter die Kunst bei weitem. Am Anfang der Schau stehen so fünf Betonkuben, die dadurch entstanden sind, dass Favaretto im flüssigen Beton in der nach oben geöffneten Verschalung herumgerührt hat, oder anders gesagt: „Die Auflösung der kubischen Formen erfolgt zugunsten lebendiger Formen der so konservierten Gesten der Künstlerin.“ Das Werk heißt „Snatching“ (2012), also: schnappen, grapschen oder entreißen. Und so steht ein riesiges Bücherregal in Halle zwei im Erdgeschoss, gefüllt mit ausrangierten Exemplaren aus Mainzer Bibliotheken – zum Mitnehmen. Schund, Klassiker, die Bibel, Bastelanleitungen. Es ist eines dieser „Momentary Monuments“, die Favaretto in Serie produziert, ein Denkmal auf Zeit. Der Bestand ist vorab dokumentiert worden, die Abgänge stehen am Ende der Schau für eine Art geistiges Klima der Kunsthalle. So weit, so gut. Inhaltlich aber kommt dieses Werk, das als Entstehungszeitraum die Jahre 2012 bis 2018 ausweist, kaum über die „Offene Bibliothek“ hinaus, die die US-Amerikaner Clegg & Guttman schon 1994 unter anderem in Mainz realisiert haben. Und auch, dass in die Bücher Ausdrucke aus dem Bildarchiv der Künstlerin mühsam, wenn auch zufällig, von den Museumsangestellten eingelegt wurden, hilft der Arbeit „Library“ nicht richtig auf. Vor allem weil die Info, dass die „Vielzahl der Buchseiten im Gegensatz zu den einzelnen Prints“ stellvertretend für die Herausforderung gedeutet werden kann, „heute eine spezifische Information im Meer der insgesamt zur Verfügung stehenden Masse an Informationen und Medien zu finden“ schnell ad absurdum geführt wird. Man muss nur das Buch umstülpen und schon fällt die spezifische Information heraus. Schon besser funktioniert da das Video „Too Fast“ aus dem Jahr 2006, die Verfilmung der Grenzen der Wahrnehmbarkeit. Es läuft im Alten Turm, vielmehr es rast. Seine Dauer: 1,5 Sekunden, die Minimaleinheit dafür, dass eine Bildaneinanderreihung bewegt erscheint. Die Szene ist aus stundenlangem Material geschnitten, der Dokumentation einer aufwendigen Inszenierung, von der lediglich eine Seelandlandschaft aufblitzt, Turn- und Schwimmübungen aufflackern, ein festlich gekleidetes Paar kurz auftritt. Im Vordergrund gleitet eine Gondel durchs Wasser. Gut auch das Werk „Doing“ (1998), anscheinend Baugeräusche, in Wirklichkeit Live-Aufnahmen einer Kunstaktion, bei der Favaretto drei Laien in einem Sisyphus-Akt einen wertvollen Carrara-Marmorblock zermeißeln ließ. Statt einer Skulptur wurde Staub produziert, auch wenn 57 Sessions nicht ausreichten für eine Tabula rasa. Der Krach umfängt einen, wenn man schließlich hochfährt zur Schaubühne des Ausstellungshauses, der Turmebene drei. Dort steht eine kleine schwarze Box auf dem Boden, aus der ein Lachen dringt. Eine Tonaufnahme aus dem Jahr 1971, erfährt man. Es stammt von dem italienischen Künstler Gino De Dominicis, der damals damit eine ansonsten leere Galerie in Rom beschallte. „Und ein Lachen wird dich begraben“, lautet der Titel von Favarettos abschließendem Werk. Es wird nachher zu leiern anfangen, jeden Abend muss jemand die schnell leer laufenden Batterien austauschen. Dominicis lacht also. Man schaut aus dem Fenster auf die rege Bautätigkeit im Zollhafen. In der Katalogbroschüre steht: „Die Arbeit zeigt einmal mehr die vielen Ebenen, die sich in Lara Favarettos Arbeiten entspannen. Soziale und politische Fragestellungen treffen auf Strömungen der Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte.“ Need or no need? Geht so. Die Ausstellung Bis 17. Februar 2019. www.kunsthalle-mainz.de

Arte Povera: Baugruben-Abdeckung mit Durchblick.
Arte Povera: Baugruben-Abdeckung mit Durchblick.
„Snatching“ heißt dieses Werk: Betonkuben, die die Künstlerin in der Verschalung bearbeitet hat.
»Snatching« heißt dieses Werk: Betonkuben, die die Künstlerin in der Verschalung bearbeitet hat.
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