Glosse Glosse: Im Morgenrot oder Das deutsche Ordentlichsein

Minutenlang stand unser Autor an der roten Ampel – und nichts passierte.
Minutenlang stand unser Autor an der roten Ampel – und nichts passierte. Foto: Christian Kibby

Nichts ist so deutsch wie bei Rot an der Fußgängerampel zu stehen. Keine Nation auf der Welt ist so gut darin wie wir. Wir lieben es. Und wir hassen es zugleich. Dieses Korsett, in das man eingeschnürt wird, wenn noch andere ordentliche Menschen an der Ampel warten und sich keiner auch nur in irgendeiner Weise traut, gegen die Grundregeln des Ordentlichseins zu verstoßen. So stand ich da am nicht mehr gar so frühen Morgen – zwei Minuten an der roten Fußgängerampel. Und nichts passierte. Nichts. Immer mehr Menschen kamen, um auf die andere Seite der Straße zu gelangen. Die Kaiser-Wilhelm-Straße wurde zum Sinnbild der Preußischen Tugenden am Fußgängerfurt mit Wechsellichtzeichen nach Paragraf 37, Absatz zwei, der Straßenverkehrsordnung.

Es wird einfach nicht grün

Drei Minuten, vier Minuten, gefühlt fünf Stunden und nichts passierte. Mir stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Ein junger Mann stand mit seinem Skateboard neben mir. „Ich bin ja ein ordentlicher Bürger“, sagte er ganz stolz, „aber ich stehe hier schon zwei Minuten länger als Sie und verliere langsam auch die Geduld.“ Nichts würde ihn in irgendeiner Weise daran hindern, über die Straße zu gehen. Es kam kein Auto, keine Bahn, kein Bus. Nur dieses rote Männchen schrieb ihm vor, stehen zu bleiben. Noch nicht einmal Kinder waren anwesend. Ein Vorbild musste hier keiner sein.

Die rettende Idee

Noch mehr Menschen kamen zur Ampel: ein Geschäftsmann mit Aktentasche, Anzug und Krawatte, zwei ältere Damen mit je einem Einkaufskorb, eine Frau mit Kinderwagen und einem etwa fünfjährigen Sohn, den sie auf türkisch zurechtwies. Es waren schon etwas mehr als ein Duzend An-der-Ampel-Wartende geworden – bis dem Skateboard-Typen die zündende Idee kam: Er drückte auf den Knopf. Fünf Sekunden später war die Ampel grün.

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