Kultur Endstation Zweiraumwohnung

„Ich will keinen Realismus, ich will Magie“, sagt Blanche (Johanna Eiworth) in Christian Weises Mannheimer „Endstation Sehnsucht
»Ich will keinen Realismus, ich will Magie«, sagt Blanche (Johanna Eiworth) in Christian Weises Mannheimer »Endstation Sehnsucht«-Inszenierung.

Er mag es gern bunt und schrill: Christian Weise, neuer Hausregisseur am Mannheimer Schauspiel, setzt statt auf psychologische Feinzeichnung auf hochtourige Expressivität. Zum Spielzeitauftakt hatte er Schillers „Räuber“ ins Altenheim gesteckt, nun macht er aus Tennessee Wiliams’ 1947 uraufgeführtem Drama „Endstation Sehnsucht“ eine überdrehte Kleinbürgergroteske, deren Botschaft sich in einem überraschenden Finale verbirgt.

„Ich will keinen Realismus, ich will Magie“, sagt Blanche DuBois, deren Leben gerade in eine gefährliche Abwärtsspirale geraten ist. Blanche entstammt dem Geldadel der US-amerikanischen Südstaaten, war Lehrerin, konnte sich vor Verehrern kaum retten. Jetzt gehört der Familienbesitz den Banken, aus Heiratskandidaten sind flüchtige Liebhaber geworden, und ihren Job hat sie wegen der Affäre mit einem Schüler verloren. In New Orleans bei ihrer jüngeren Schwester Stella sucht sie nun Unterschlupf. Aber die ist mit Stanley Kowalski verheiratet, Fabrikarbeiter und Sohn polnischer Einwanderer. Von ihren hochfliegenden Lebensträumen will Blanche trotzdem nicht lassen, die Ernüchterung wird brutal, am Ende ist sie ein Fall für die Psychiatrie. Auch Christian Weise mag keinen Realismus. Er will Wirklichkeit nicht abbilden, sondern durchschauen, will sich in die Figuren eines Stücks nicht einfühlen, sondern ihre Gefühle und Haltungen freilegen und nach außen stülpen. Er setzt dafür drastische Mittel ein, lässt sein Personal altern, verunstaltet es mit klobigen Fatsuits, verpasst ihm schlabbernde Kleider und komische Frisuren, lässt hysterisch jammern oder aggressiv brüllen und mit der exaltierten Gestik von Stummfilmdarstellern agieren. Und wenn alles gut geht, wenn diese Realismus-Austreibung gelingt, dann erscheint plötzlich hinter all dem überdrehten Getue und Gerenne eine blitzende Wahrheit. Bei Tennessee Williams funktioniert dies ganz wunderbar in einem Finale voll poesietrunkener Ernüchterung. Aber erst einmal sperrt Weise die Figuren dieses Nachkriegsmelodrams in ein windschiefes, beengtes Zwei-Zimmer-Häuschen mit Mini-Terrasse. Die Bühne von Paula Wellmann, die auch die in Pink-Blau-Grün-Tönen gehaltenen Kostüme entworfen hat, sieht aus, als wäre sie aus einem Bilderbuch oder einem Comic gefallen. Auf engstem Raum drängen sich nicht bloß Blanche, Stella und Stanley, sondern auch alle Nebenfiguren: die Hausbesitzerin Eunice mit Ehemann und Stanleys Pokerfreunde. Es ist kein proletarisches Milieu, wie von Williams gedacht, sondern eine bräsig-unbewegliche Kleinbürgerwelt am Rande des Prekären. Man trägt Anzug und Krawatte, kann sich aber nur noch eine schäbige Wohnschlafküche mit Bad leisten. Der Ort ist ein Problembiotop, die Katastrophe vom ersten Moment an unausweichlich. Und Blanche, die Fremde, die hier eindringt, ist der Auslöser. Das macht den Abend bei aller Unterhaltsamkeit eine ganze Weile ziemlich absehbar. Aber dann fliegt alles buchstäblich auseinander. Die Bühnenteile, die zuvor schon einzeln für intime Szenen herausgelöst worden waren, fallen gänzlich zusammen und werden schließlich hinausgeschoben. Die große Bühne ist nun ein leerer blauer Raum, nur vorn links steht noch der Flügel des Musikers Falk Effenberger, daneben der Barhocker, auf dem Tala Al-Deen als androgyner Engel todtraurige Popsongs ins Mikrofon röchelt. Für einen schönen Moment darf nun die Magie über den Realismus siegen, dürfen Blanches Träume wahr werden, darf sie im Goldkostüm mit dem unbeholfenen Mitch tanzen, während die anderen sie wie in einem Musical choreografisch begleiten, und es Glitzerkonfetti vom Bühnenhimmel regnet. In diesem unwirklichen Moment erscheinen Blanche und Mitch endlich ganz bei sich selbst, Johanna Eiworth hat ihre hysterische Aufgekratztheit abgelegt, Matthias Breitenbach seine weinerliche Dicklichkeit. Einen Moment lang könnte alles gut werden. Aber dann behält doch der Realismus die Oberhand. Stanley, dem Christoph Bornmüller die verschlagene Aggression eines enttäuschten Aufsteigers verleiht, hat Mitch über Blanches Vorgeschichte aufgeklärt. Blanche ist für die Männer nun nur noch ein Sexobjekt. Mitch demütigt sie mit Worten, Stanley vergewaltigt sie. Und auch Stella, von Nancy Mensah-Offei als eher unsensible, ewig nagelfeilende Vorstadtschönheit gespielt, überlässt die Schwester herzlos-pragmatisch den Leuten vom psychiatrischen Notdienst. Gesiegt hat der Realismus, aber in Erinnerung bleibt die magische Widerstandskraft dieses Theaterabends. Termine —Nächste Vorstellungen am 10., 15. und 20. Februar, 1., 17. und 23. März. —Karten: www.nationaltheater-mannheim.de

x