Kultur Einsame Menschen

Die Liebe aus Büchern: Ekaterina Morozova als Tatjana.
Die Liebe aus Büchern: Ekaterina Morozova als Tatjana.

Am Ende doch noch Buhs. Nicht für Eva Kleinitz, die erste Frau an der Spitze der Straßburger Rheinoper, sondern für Frederic Wake-Walker, der dort als letzte Premiere der äußerst gelungenen ersten Saison der neuen Intendantin Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Szene setzte. Als bilderreiches Ideentheater, das sich nicht auf den ersten Blick erschloss. Einhelliger Jubel – völlig zu Recht – hingegen für den Dirigenten Marko Letonja und ein exzellentes Sänger-Ensemble.

Existieren wir, oder funktionieren wir nur noch? Leben wir, oder sind wir bereits Automaten, darauf programmiert, den gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen? Und was passiert mit jenen, die nicht mittanzen im großen Mahlstrom? Sie werden zu Außenseitern, scheitern, resignieren. Wie Tatjana, eine exaltierte Person, die in ihren Bücherfantasien lebt; wie Lenski, der Dichter, der nur sich selbst liebt und alles – auch Olgas Lebenslust – auf sich bezieht; wie den zum Zyniker gewordenen Onegin, den das Leben anekelt. Die Bücher, in denen Tatjana ihr Heil sucht, stehen bereits auf dem Gut der Larins recht angestaubt und ausgedünnt in den riesigen Regalen, die Jamie Vartan auf die von Fabiana Piccioli kunstvoll ausgeleuchtete Bühne stellt. Und was tut Tatjana nun in der als Schlüsselszene geltenden „Briefszene“? Sie schreibt nicht, sie reißt die passenden Seiten aus jenen alten Büchern heraus, die dann zum Thron für die Königin des ihr zu Ehren gegebenen Festes aufgehäuft sind: Ein Bücherthron über den Banalitäten einer neonbeleuchteten Sause, in der sowohl Lenski als auch Onegin herumirren und trotz der Menschenmenge an der Theke der Bar so einsam wirken wie das Personal von Edward-Hopper-Gemälden. Es schneit nicht in der anschließenden Duell-Szene; die beiden dieses Lebens Überdrüssigen spielen Russisch-Roulette – und es trifft eben Lenski. Regisseur Frederic Wake-Walker bricht mit Sehgewohnheiten, hat mitunter ein paar Gags zu viel und ein paar Ideen zu wenig, wie er – besonders im ersten Akt – die Personen führen soll, die sich in einer dann zunehmend überzeugenderen Choreographie bewegen. Mit dem Höhepunkt der Polonaise im dritten Akt, zu der sich die Gäste so roboterhaft bewegen, als seien sie allesamt Geschöpfe aus der Werkstatt von E.T.A. Hoffmanns Spalanzani, Geschwister der Puppe Olympia, genormte Mitglieder einer wo auch immer zu verortenden Einheitsgesellschaft. Tatsächlich: Bei einigen der Herren und Damen in grauen Anzügen oder gelben Roben handelt es sich um Schaufensterpuppen. Und die vielen Bücher im Palast des Fürsten Gremin? Aus Holz: Menschen-Attrappen zwischen Bücher-Attrappen. Dem roten Luftballon-Herz, das Onegin aus früheren Zeiten hinüber gerettet hat, geht langsam aber stetig die Luft aus – und Tatjana? Sie klappt am Ende das letzte echte Buch zu. Alle Individuen sind tot oder haben sich aufgelöst in der Masse ... Es ist eine ziemlich genaue Analyse der Gegenwart, die dem Regisseur da gelingt. Je länger man über dieses eher choreografierte denn dramatisierte Spiel der Bilder und Ideen nachdenkt, desto mehr wird man sich dessen bewusst. Was anfangs zum Widerspruch reizt, leuchtet mit einem Mal durchaus ein: Man muss dieser Inszenierung eine gewisse Nachhaltigkeitswirkung bescheinigen. Ebenso wie der musikalischen Seite. Da allerdings mit sofort einsetzender Wirkung. Da wären zum einen die für das slawische Repertoire idealen Stimmen von Bogdan Baciu (Onegin), Ekaterina Morozova (Tatjana), Liparit Avetisyan (Lenski), Marina Viotti (Olga), Mikhail Kazakov (Gremin), Doris Lamprecht (Larina) und Margarita Nekrasova (Filipievna). Vor allem aber ist da das Orchestre philharmonique de Strasbourg mit seinem Chefdirigenten Marko Letonja. Unter dessen geradezu magischen Händen erklingt eine ungemein farbenreiche Sinfonische Dichtung mit Gesang: traumschöne und zugleich hochspannende Musik mit langem Nachhall. Termine Heute und am 22., 24., 26. Juni in Straßburg, 4., 6. Juli in Mulhouse; www.operanationaldurhin.eu

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